Frauen in Männerberufen

Erstaunlich ist, dass es in unseren Tagen immer noch erstaunt, wenn junge Frauen ein Studium in einem MINT-Fach beginnen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Obwohl ihre Zahl geradezu stürmisch zugenommen hat. Sie stieg seit 2008, was schätzen Sie, um wieviel Prozent?

Um 70 Prozent. Und immer mehr Frauen wollen nach dem Studium in den entsprechenden Berufen natürlich auch in Führungspositionen. Modern geführte Unternehmen wollen das auch. Die BASF zum Beispiel möchte bis 2030 einen Frauenanteil in Führungspositionen von 30 Prozent erreichen – wie etliche andere Firmen ebenfalls. Welches Unternehmen möchte das nicht? Etwas anderes kann man sich heute fast schon nicht mehr leisten, wenn man auch nur entfernt Wert auf die öffentliche Meinung legt, geschweige denn auf das Potenzial gut ausgebildeter und motivierter Frauen im Beruf.

Trotzdem ist die Geschäftswelt heute in weiten Teilen immer noch eine Männerwelt mit den dazugehörigen Machtspielen, Rangordnungsrangeleien, Statuskämpfen, heimlichen Spielregeln, Revierverhalten und dem Old Boys Network. Wer die Spielregeln dieser Welt kennt und beherrscht – ob Mann oder Frau – kommt leichter voran. Das heißt nicht, dass Frauen sich anpassen und wie Männer führen, arbeiten und kommunizieren sollten. Es heißt lediglich: Wer auf einem Rugby-Feld Schach spielt, zieht den Kürzeren. Wer die Spielregeln kennt, kann gewinnen oder verlieren. Wer sie nicht kennt, hat schon verloren, noch bevor der erste Zug getan ist. Warum sollten Frauen dieses Spiel überhaupt mitspielen?

Ganz einfach: Zahlen lügen nicht. Zum Beispiel: 50 Prozent der Anwender von technischen Produkten sind Frauen. Diese Produkte werden jedoch immer noch zu 95 Prozent von Männern entwickelt. Schon beim ersten Blick auf viele Marktneuheiten ist selbst stilbewussten Männern inzwischen klar, dass Frauen – so sie denn jenseits der wohlfeilen Marktforschung einbezogen würden – eine Menge zu Design, Bedienerfreundlichkeit und User Experience beitragen könnten.

Frauen mit ihren unbestreitbaren Soft Skills und ihrer Empathiefähigkeit können auch und gerade organisatorische Aufgaben sehr gut lösen und sind damit für verantwortliche Positionen oder für die Beratung sozusagen von Haus aus basis-qualifiziert. Es ist zum Beispiel in der Beratung offenes Geheimnis und geübte Praxis, dass häufig Beraterinnen zu Klienten geschickt werden, um die Wogen zu glätten, wenn das Männer-Team den Kunden ungeschickterweise „sauer gefahren“ hat.

Wie inzwischen eine Fülle von Studien zeigt: Sobald mehr Frauen in der Geschäftsführung sind, wachsen Unternehmen schneller, Firmenkultur und Arbeitsatmosphäre bessern sich. Wenn wir hier am Lehrstuhl Gruppenarbeit machen, dann merkt auch jede(r), der/die einzelne Gruppen begleitet: In gemischten Teams ist der Umgang miteinander deutlich harmonischer und mindestens vergleichbar produktiv wie in reinen Männer-Teams, wenn nicht wegen der gesteigerten Harmonie auch produktiver.

Studien der EU zeigen:  Ein ausgewogener Mix der Geschlechter, aber auch der Generationen und Kulturen in der Belegschaft steigern nicht nur die Mitarbeitermotivation, sondern auch die Kundenzufriedenheit und die Attraktivität von Unternehmen. Reine Männerclubs sind weder für Kunden noch für Mitarbeiter besonders attraktiv.

Frauen gehen anders an Herausforderungen heran als Männer, sind im Durchschnitt betrachtet teamorientierter, binden bei der Entwicklung von Lösungen mehr Mitarbeiter auch und gerade von der operativen Ebene ein und erzielen daher Lösungen, die auch und gerade von der operativen Ebene stärker unterstützt werden. Studien zeigen weiter: Frauen motivieren besser. Weibliche Führung ist im Schnitt sachlicher und fachlicher (ohne die üblichen Spielchen) und schafft dadurch höhere Motivation und ein besseres Arbeitsklima. Bei all diesen heutzutage unbestrittenen und unwidersprochenen Vorteilen: Warum sind nicht längst viel mehr Frauen in Führungspositionen?

Weil die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in weiten Teilen der Wirtschaft – trotz allen riesengroßen Fortschritten – immer noch schlicht nicht gegeben ist. Man(n) braucht dafür lediglich das zu betrachten, was berufstätige Mütter und berufstätige Väter nach Feierabend machen. Da wird sich kurzfristig auch nicht viel ändern – was schlimm ist, aber nicht gravierend, solange es noch genug Hebel gibt, die frau auch kurzfristig ziehen kann.

Beginnen wir bei der Regelkunde:  Viele Frauen im Beruf tendieren zu einem unbewussten Lächel-Reflex, was in der Männerwelt ebenso unreflektiert als Mimik der Schwäche gedeutet wird. Das heißt nicht, dass Frauen sich das Lächeln verbieten, sich mithin verbiegen sollten. Es heißt lediglich, dass Frauen, die sich diesen unbewussten, unreflektierten, spontanen Reflex kurzfristig abgewöhnt haben, von den lieben Kollegen immer noch unreflektiert, aber nun deutlich stärker ernst genommen werden. Ganz bewusst lächeln kann frau ja immer noch.

Oft beobachte ich auch: Insbesondere junge Frauen kennen viele rhetorische Spielregeln nicht. Sie wollen es besonders gut machen (was gut ist) und berichten zum Beispiel recht ausführlich auch und selbst da, wo das (männliche) Gegenüber ein kurzes, knappes Briefing bevorzugt (und schon ungeduldig wird). Auch das hat nichts mit dem verhassten Sich-Verbiegen zu tun, wie die meisten Frauen sagen, die von dieser heimlichen Regel erfahren: „Das spart ja auch mir Zeit. Wenn es ihm kürzer lieber ist, kann es mir recht sein.“

Auf der anderen Seite ist es oft so, dass junge, dynamische Frauen insbesondere zu Beginn von Meetings unter Männern zu schnell zum Punkt, zur Sache, zur Entscheidung kommen wollen, während die Männer noch Jägerlatein verbreiten. Dieser „völlig unnötige“ Klatsch und Tratsch zum Meeting-Auftakt erfüllt jedoch eine soziale und hierarchische Funktion (in der Männerwelt): Wer hat hier etwas zu sagen? Wer kann die tollste Geschichte zum Besten geben?

Wer hier nicht mitmacht und Anglerlatein zum Besten gibt, kommuniziert dem typischen Mann im Meeting (falls es ihn gibt): „Ich habe nichts zu sagen und kann auch nicht mitreden.“ Frauen hingegen, die sich für jedes Meeting vorab eine eindrucksvolle Anekdote mit Kunden, Arbeitsprozessen oder besser noch abenteuerlich errungenen kleinen Erfolgen aussuchen, werden in der vorwiegenden Männerrunde als „Eine von uns“ identifiziert und konnotiert. Gut erkannt: Das ist ein Ritual – aber auch das „Hallo!“ zur Begrüßung ist ein Ritual. Rituale (diesseits von Tieropfern) sind weder gut noch schlecht. Sie sind Konventionen. Schlecht sind sie nur für jene, die diese Konventionen nicht kennen. In ganz Asien ist diese spezielle Konvention übrigens extrem ausgeprägt: Dort wird mit neuen, ausländischen Geschäftspartnern erst zwei Stunden lang ausführlich über Familie und Privates geredet, um danach in 20 Minuten das Vertragliche in einem ersten Schritt zu regeln. Mit unseren Männern hierzulande haben wir sozusagen noch Glück gehabt.

Frauen im Beruf spielen das Spiel nicht nur leichter und besser, wenn sie die rhetorischen Spielregeln kennen, sondern wenn sie auch der taktilen Regeln kundig sind. Zu den Zeichen für Dominanz (sogenannte Dominanzgesten oder Power Moves) in der Männerwelt zählen (neben dem in den USA sehr lebhaft diskutierten Manspreading; googelt sich sehr amüsant) unter anderem auch Berührungen: der feste, männliche Händedruck, die begütigende Hand auf dem Unterarm, der kumpelhafte Anrempler, der stupsende Zeigefinger am Oberarm des Gegenübers … Es gibt Beraterinnen für Frauen in Männerberufen, die für eine klare Grenzziehung plädieren: „Jede als unangemessen empfundene Berührung sollte umgehend retourniert werden!“ Fragt sich, ob der Mann diese Retourkutsche dann als Grenzziehung versteht oder als kumpelhaftes Mitmachen missversteht – oder einfach nur irritiert ist, weil er sich seinerseits natürlich keinerlei Gedanken über weibliche Spielregeln gemacht hat (was die eigentliche Ungleichheit ist).

Eine andere Abwehr der männlichen Spielregel „Anfassen gilt!“ ist der deutliche verbale Hinweis: „Lassen Sie das, das stört mich.“ Andere Frauen identifizieren solche taktilen Übergriffe unmittelbar als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Wieder andere reagieren, nun ja, gelassen, tolerant – mit dickem Fell? – und ignorieren das rituelle Betatschen konsequent, was Kämpferinnen für Frauenrechte auf die Palme bringt. Wie reagieren Sie? Und wie viele Männer gibt es, die bis heute nicht wussten/wissen, dass mann zwar einen Kumpel, aber keine Frau am Arbeitsplatz antatschen soll? Ich würde mir an dieser Stelle eine lebhafte Diskussion wünschen. Geschlechterübergreifend. Nötig wäre sie allemal.