Nach einem desaströsen Jahr wie 2020 können wir ein Internet-Genre gut gebrauchen, das wenig bekannt ist: Listen mit dem, was in einem abgelaufenen Jahr auch an Gutem passiert ist.
Man sollte das nicht vermuten nach all dem, was wir im letzten Jahr ertragen mussten, doch sie sind da: Die guten Dinge eines schlechten Jahres. Oder um den Titel eines Watzlawick-Bestsellers auf den Kopf zu drehen: Das Gute vom Schlechten.
Etwas unzweifelhaft Gutes war und ist zum Beispiel, dass der Planet im letzten Jahr eine Pause einlegte, die sogenannte Anthropause (aus dem Altgriechischen Anthropos, der Mensch). Das heißt: Die Erde machte Pause – von uns, vom Menschen. Während dieser Pause kam plötzlich die Natur zurück. In Großstädten wie Berlin wurden Wildschweine mitten in der Stadt gesichtet. Viele Großstädter hörten zum ersten Mal in ihrem Leben die Singvögel pfeifen, weil der Straßenlärm weg oder deutlich reduziert war. Meeresschildkröten in Tunesien vermehrten sich rekordverdächtig, weil viel weniger Touristen die Strände platttraten, in die sie ihre Eier legen. In den Kanälen von Venedig wurden Fische entdeckt, wo seit Jahren keine mehr waren.
55 Blauwale tauchten in der Antarktis auf, wo zwei Jahre zuvor nur ein einziger zu sehen war: weniger Schiffsverkehr, mehr Wale. Von den Lederschildkröten in Thailand wurden so viele beobachtet wie in den letzten 20 Jahren nicht mehr. Wenn der Mensch und seine Umtriebe wegfallen, kommen Fauna und Flora wieder aus ihrer Verbannung hervor und vermehren sich biblisch. Corona tut dem Menschen nicht gut – aber der Natur.
Wobei man auch sagen könnte: Corona schädigt den Menschen direkt und tut der Menschheit indirekt gut. Natürlich lassen sich Menschenleben nicht gegeneinander aufrechnen – das wäre zutiefst zynisch. Doch wenn wir die Rechnung einmal aufstellen würden, müssten wir einrechnen, dass viele Städter seit den Lockdowns deutlich gesündere Luft atmen, was allein in Europa 11.000 Menschen jenes Leben gerettet hat, das sie 2019 im City-Mief noch verloren hätten, wie das Centre for Research on Energy and Clean Air errechnet hat.
Ebenfalls eine gute Nachricht: Seit letztem Jahr ist Solarenergie die kostengünstigste Art, Strom herzustellen. Und dies nicht so sehr, weil sie immer noch massiv subventioniert wird, sondern laut Internationaler Energie-Agentur wegen einer Kombination aus technischem Fortschritt durch das Voranschreiten der Forschung (höherer Nutzungsgrad der Technik) und Economies of Scale: Je größer die Solar-Farmen werden, desto stärker die Fixkosten-Degression. Geht es in diesem Stil weiter, wird grüne Energie die Kohle-Energie in fünf Jahren als größte Energiequelle verdrängen. Damit wäre die sogenannte Energiewende nicht nur ein Schlagwort, sondern ein Fakt.
Und wenn wir gerade bei der Forschung sind: Wissenschaftler haben die Erlösung vom Plastik-Fluch entdeckt: ein plastik-fressendes Super-Enzym namens PETase. Ein übrigens völlig natürliches Enzym, dessen Fundort Sie nie erraten werden: eine japanische Mülldeponie. Dort haust ein Insekt, das tatsächlich Plastik frisst und mit Hilfe von PETase verdaut. Mit diesem Enzym kann nun auch der Mensch Plastik rein technisch innerhalb weniger Tage aufbrechen, was bislang mehrere Hundert Jahre auf dem Weg der natürlichen Verrottung gedauert hat. In unserer Plastik-vermüllten Welt ist das ein heller Hoffnungsschimmer: Hilfe ist unterwegs. PETase ist schneller als alle bisher bekannten Enzyme.
Und noch ein Erfolg der Forschung: Ein norwegisches Start-up hat eine nano-modifizierte Lehm-Mischung entwickelt, die innerhalb kürzester Zeit ganze Wüstengebiete in fruchtbares Ackerland verwandelt. Das ist Fortschritt auf Terraforming-Niveau – auf dem eigenen Planeten. Die Wüsten verschlingen immer mehr Land? Jetzt schlägt das Land zurück. Aktuell kostet das Terraforming der Erde noch 2 US-Dollar pro Quadratmeter, was an sich schon günstig ist. Denn mit welchem Argument verkaufen noch heute US-Immobilienmakler überteuerte Villen auf exklusiven Grundstücken? Mit Mark Twains Spruch: „Buy land! They’re not making it anymore.” Jetzt wurde die Produktion wieder aufgenommen. Und noch viel mehr, wenn der Preis fürs Urbarmachen der Erde dank Massenproduktion des Wunder-Lehms auf 20 Cent/m² fällt.
Inmitten der Katastrophenmeldungen ’20 ging auch die beeindruckend schnelle Eindämmung des zweitgrößten Ebola-Ausbruchs der Geschichte unter. Früher hätte so ein Ausbruch wie im Kongo letztes Jahr Hunderttausende Leben gekostet.
Immer mehr Länder nehmen den Klimaschutz ernst und unter anderem in ihren Schulunterricht auf, um schon die Jüngsten auf diese Priorität einzustimmen; darunter Länder wie Österreich oder auch Italien. Dazu trägt auch der Rad-Boom des letzten Jahres bei: Mehr Menschen fahren Rad, die Branche boomt, Camping übrigens auch. Ebenfalls einen Boom erlebt die Second-Hand-Branche, die eine extreme Umsatzsteigerung erlebte: Das Bewusstsein von uns Konsumenten wandelt sich – zum Guten. Denn im Vergleich zum Neukauf spart der Kauf eines gebrauchten Kleidungsstückes im Schnitt 1 Kilo Abfall, 3040 Liter Wasser und 22 Kilo CO2.
Im vergangenen Jahr haben sich auch 14 Länder zum Ocean Panel zusammengeschlossen mit dem Ziel, bis 2025 eine zu 100 Prozent nachhaltige Bewirtschaftung ihrer angenzenden Meere zu erreichen, um den Artenbestand zu sichern und das Ökosystem zu bewahren.
Und natürlich senkten die weltweiten Lockdowns den CO2-Ausstoß um insgesamt 2,6 Milliarden Tonnen, hauptsächlich wegen des reduzierten Energieverbrauchs, der für diese Riesenmenge lediglich um 8 Prozent sinken musste: Gut fürs Klima und für uns.
Schließlich wurde 2020 der neue Berliner Flughafen endlich eingeweiht – nur 9 Jahre nach der ursprünglich geplanten Eröffnung. Und zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wurde ein RNA-Impfstoff entwickelt und genehmigt.
In dem ganzen Mist des letzten Jahres ist also auch viel Gutes passiert. Das heißt nicht, dass nun alles gut wäre – das wird es auf Monate nicht sein. Doch unter dem Eindruck aktueller Katastrophen verrutscht unsere Wahrnehmung leicht ins selektiv Negative (deshalb heißt sie „selektive Wahrnehmung“) und wir sehen nur noch schwarz, was Schlimmes noch schlimmer macht und uns bei dessen Überwindung behindert. „Positives Denken“ ist ebenso selektiv und allzu blauäugig. Wofür ich plädieren möchte, ist stattdessen eine adaptive Mental-Hygiene mit einer ausgewogenen Wahrnehmung, die das Negative akzeptiert wie es ist („Shit happens“) und dabei das Positive im Blick behält, das uns stark macht. Denn diese Stärke brauchen wir heute mehr denn je.