Wenn wir heutzutage von „Herstellern“ sprechen, hat das nur noch lose Bedeutung. Tatsächlich geschieht die Herstellung der meisten Güter nicht mehr in einer Fabrik, an einem Ort, sondern in vielen Fabriken entlang einer Lieferkette, die ihrem Namen alle Ehre macht, weil sie aus oft unübersichtlich vielen Kettengliedern besteht. So wird zum Beispiel die fünfstellige Anzahl von Einzelteilen eines Autos (Benziner) nicht mehr beim allseits bekannten Automobilhersteller hergestellt, sondern zu rund 75 Prozent bei Hunderten, wenn nicht Tausenden Lieferanten. Im eigentlichen Automobilwerk wird dann praktisch „nur noch“ zusammengeschraubt, was die Lieferanten liefern.
Auf diese Weise entstanden in den letzten Jahren extrem kleinteilige, weltweite und höchst komplexe Netzwerke, die täglich Millionen von Teilen hin und her bewegen. Und obwohl diese Netzwerke in der Zwischenzeit ein Ausmaß an Komplexität erreicht haben, das geradezu atemberaubend anmutet, wird dieser ganze Millionenverkehr vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen immer noch äußerst manuell mit Tabellenkalkulation, E-Mails und Telefonaten gemanagt. Das macht eine Menge Arbeit und führt auf übergeordneter Ebene zu höchster Intransparenz und Kontrollverlust. Das wiederum führt zu höheren Kosten und zu Effizienz- und Umsatzverlusten. Wer seine Arbeitszeit zum Durchleuchten undurchsichtiger Lieferketten dransetzt, kann sich in dieser drangesetzten Zeit nicht um Kunden und Umsatz kümmern. Das kostet bereits in Zeiten von Business as usual zu viel Zeit, Energie und Geld.
In disruptiven Zeiten mit zum Beispiel global tobenden Pandemien oder einem querstehenden Containerschiff im Suezkanal kostet es noch mehr. Dann potenzieren sich die übliche Intransparenz und Ineffizienz zusammen mit der aktuellen Disruption zu chaotischen Zuständen in Lieferketten. Anstatt dass das Management auf einen Blick sieht, wo welche Ladung auf der Welt derzeit hängengeblieben ist und wie sie schneller zum Ziel umgeleitet werden könnte, ist die halbe Firma tagelang damit beschäftigt, genau dies „von Hand“ und mit vielen E-Mails und Telefonaten überhaupt erst herauszufinden. Hinzu kommt, dass in disruptiven Zeiten diese Ausnahme dann zum Regelfall wird, auf den wir uns angesichts kommender Krisen besser vorbereiten sollten, zum Beispiel mit cloud-basierten Kollaborationsplattformen.
Es gibt inzwischen eine Vielzahl von diesen Plattformen auf internationaler Ebene, beispielsweise Maersk Flow. Diese Plattform der bekannten dänischen Großreederei stellt Kunden und Partnern alle notwendigen Informationen zur Verfügung, um ihre Lieferketten von der Fabrik bis zum Kunden zu steuern: Transparenz auf Knopfdruck.
Auch in der Automobilindustrie ermöglicht eine solche Plattform allen Beteiligten in der Lieferkette die gemeinsame Übersicht über tagesaktuelle Lieferabrufe und Planbedarfe sowie die Einrichtung eines übergreifenden Frühwarnsystems, das potenzielle Versorgungsengpässe frühzeitig erkennt. Wenn das so toll ist, warum haben das dann nicht längst alle?
Weil das nicht so einfach ist. Vier Hindernisse stehen im Weg. Das erste: die Kosten. Alle Akteure einer Lieferkette müssen zunächst in die nötige Hard- und Software investieren und ihre internen Systeme kompatibel machen, so dass der „Digitale Zwilling“ jedes Einzelteils auch durch wirklich alle IT-Systeme aller beteiligten Partner durchgeschleust werden kann. Das zweite Hindernis: Solche Plattformen werden meist vom Hauptakteur einer Lieferkette entwickelt, der sie dann kraft seiner relativen Macht in der Kette in Form einer einseitigen Lösung allen anderen mehr oder weniger sanft aufdrängt – was selten für Begeisterung oder auch nur für wohlwollende Bereitschaft auf Seiten der schwächeren Lieferpartner sorgt.
Drittens bieten solche Plattformen einen Einblick in die Daten jedes Lieferketten-Partners, dessen Tiefe eine Offenheit und ein gegenseitiges Vertrauen voraussetzt, wie sie in vielen herrschenden Lieferketten mit ihren ohnehin bestehenden Macht-Asymmetrien schlicht momentan nicht gegeben sind.
Und viertens schließlich das übliche Akzeptanzproblem: Die meisten Mitarbeiter der beteiligten Firmen haben eine Verbundenheit mit den alten Prozessen und Routinen entwickelt, die in anderem Zusammenhang vielleicht als „loyal“ bezeichnet werden könnte, die jedoch in Zeiten der Transformation schlicht ein Bremsfaktor ist. Das betrifft vor allem alteingesessene Unternehmen mit großer Tradition, welche sich nun in Zeiten des Umbruchs gegen die Firma wendet.
Trotzdem gibt es natürlich auch Branchen und Unternehmen, in denen sich die neue Plattform-Ökonomie bereits durchsetzt, zum Beispiel im Automobil- und im Maschinenbau. Derzeit gibt es weltweit drei große Plattform-Betreiber: Siemens MindSphere, Amazon AWS und Microsoft Azure. Große Unternehmen wie die Telekom oder Bosch unterhalten ihre eigenen Plattformen im Sinne der angesprochenen einseitigen Lösungen, bei denen dann alle anderen, weniger marktmächtigen Partner nolens volens mitmachen. Selbst falls das zähneknirschend erfolgen sollte: Das Knirschen wird bald verklingen. Spätestens dann, wenn sich die neue Plattform-Ökonomie dank ihrer überragenden Vorteile der Transparenz, Effizienz und Lieferketten-Resilienz als neuer Industrie-Standard etabliert.
Sehr geehrte Frau Hartmann,
danke für Ihre Nachricht. Ich hätte gar nicht erwartet, daß Ihnen das Abendland Sorgen machen würde. Solche Regungen jucken die Maschine ja auch nicht besonders. Menschliches Mitdenken ebensowenig, das bestätigt leider nur den eingeschlagenen Pfad.
Na, der Tag ist noch lang und die Zukunft ist ungeschrieben. Ich leg erst mal auf.
Liebe Grüße, Martin Karmann
Naja – Sorgen ist vielleicht ein wenig hoch gegriffen. Ich bin jetzt nicht gramgebeugt vor Sorge, sondern folge lieber Ihrem schönen und wegweisenden Begriff: menschliches Mitdenken – das fasst es doch schön zusammen.
Sehr geehrte Frau Hartmann,
sind Sie als Professorin von einem solchen Industrie-Standard wirklich überzeugt? Beim völligen Umstieg auf Expertensysteme wird die Annahme maschineller Annahmen irgendwann ausweglos. Das bedeutet, im populärwissenschaftlichen Sinne, „digitale Diktatur“ – mit dem Ergebnis der Unerklärlichkeit = Unlehrbarkeit einschlägiger Systemerkenntnisse. Wer aber sollte Systemoutput noch studieren und jemandes Lehramt rechtfertigen? „Illoyal“ zu „alten Prozessen und Routinen“ der Wissensvermittlung geworden, dürften wir uns getrost zurücklehnen und sinnvollere Tätigkeiten ausüben, hieß es ja schon bei Marx und Lenin. Die Sklaven sitzen dann an allen Enden der Lieferkette, angelernt werden sie in einer Viertelstunde. Wär doch eigentlich blöd, oder nicht? Liebe Grüße.
Lieber Martin, da weisen Sie mit voller Berechtigung auf ein extremes Risiko der Algorithmierung hin. In einigen Bereichen, zum Beispiel vor einigen US-Gerichten hatten/haben wir die Digitale Diktatur bereits. Verbreitet sich das großflächig, wäre das nicht nur blöd, sondern praktisch der Untergang des Abendlandes, den wir alle verhindern wollen. Deshalb habe ich ungeduldig auf genau einen so kritischen Kommentar zum Blog gewartet, wie Sie ihn eben gaben. Solange noch genügend kritische Denker mitdenken, ist mir ums Abendland nicht bang. Evi Hartmann