Viele Menschen haben während des Fipronil-Skandals auf ihr gewohntes Frühstücksei oder aufs Omelett verzichtet. Das war eigentlich unnötig, denn am selben Tag, an dem der Skandal ruchbar wurde, wurde auch klar, dass Eier deutscher Herkunft nicht betroffen waren. Als man es also hätte wissen können, aßen viele keine Eier mehr, obwohl deutsche Eier nicht vergiftet waren. Aber viele wussten es nicht, weil sie nicht richtig informiert waren. Als man es noch nicht wissen konnte, aßen viele Eier, obwohl sie vergiftet waren. Denn niemand wusste es, weil niemand informiert war. Ergo: Nicht das Ei macht den Unterschied, sondern die Information. Besser gesagt: deren Mangel. Die Intransparenz.
Wir sehen nicht alles, was wir kaufen. Über den Gütern der Globalisierung schwebt der Schleier der Intransparenz. Das ist die Welt der Globalisierung: Die ganze Welt ist unser Supermarkt. Das muss sie sein. Denn deutsche Hühner legen lediglich 70 Prozent aller Eier des deutschen Bedarfs. Der Rest kommt aus dem globalen Supermarkt. Und dieser Supermarkt hat einen Makel, der so groß ist wie der Elefant im Wohnzimmer. Und der ebenso verschämt verschwiegen, verdrängt und verniedlicht wird. Der Makel heißt Intransparenz.
Je länger und weiter verzweigt eine Supply Chain wird, desto intransparenter wird sie tendenziell. Das ist schlimm genug. Schlimmer ist: Wenn wir im globalen Supermarkt Waren ferner Länder kaufen (lassen), kaufen wir stets auch deren Gesetze, Sitten und Gebräuche mit ein. Die ausländische Behörde, die unsere Eier vergiftet in den Handel ließ, verfolgte zum Beispiel die Sitte „Die Strafverfolgung der Täter geht vor der körperlichen Unversehrtheit ihrer Opfer“. Deshalb verschwieg sie das Gift im Ei wochenlang. Um erst mal die Täter dingfest zu machen. Im Land, aus dem die Eier kommen, mag das eine allseits akzeptierte und seit Jahrhunderten gepflegte Sitte sein. Bei uns ist sie es nicht. Aber von diesem Kulturunterschied wissen wir nichts, wenn wir zum Eierkarton greifen. Wir denken „Ei ist Ei“. Ein Irrtum.
Wegen dieses Irrtums wurden Millionen Eier vernichtet; zum größten Teil unnötig. Auf der anderen Seite gingen die Eier auf den lokalen Wochen- und Bauernmärkten weg wie warme Semmeln. Warum? Weil man da zu wissen glaubt, was man kauft. Man hat nicht nur das Ei, sondern auch das Vertrauen. Die Transparenz hat man immer noch nicht.
Erinnern Sie sich an den Dioxin-Skandal? Oder an den Rindfleisch-Skandal? Wir hatten schon so viele Lebensmittelskandale. Und der nächste kommt bestimmt. Warum verhindern ihn die Behörden nicht? Neulich sagte ein Experte im Deutschlandfunk: „Weil die zuständigen Behörden den größten Teil ihrer Arbeitszeit nicht dazu verwenden, um Skandale zu vermeiden, sondern um Zuständigkeiten zu klären, zu regeln und untereinander hin und her zu schieben.“ Es war das erste Mal, dass ich bei einer Nachrichtensendung lachen musste. Dabei unterschlägt die Frage nach der Zuständigkeit einen Hauptzuständigen: uns.
Seit wann sind wir nicht mehr zuständig für das, was wir uns und unseren Kindern in den Mund stecken? Wir achten wie ein Inquisitor auf den Preis einer Ware. Wir rennen hechelnd hinter den neuesten Modetrends, Statusprodukten und Distinktionsartikeln her. Wir kaufen bio, grün und nachhaltig. Und Transparenz? Erwarten wir als Dreingabe. Wie die Verpackung einer Ware. Das ist Transparenz nicht.
Transparenz ist eine Bring- und eine Holschuld. Viele Hersteller und Händler bringen ihren Teil der Schuld nicht. Sie informieren wenig bis falsch. Aber wir fragen auch nicht nach. Wir holen uns die Information nicht, die wir brauchen. Wir sorgen nicht selber für Transparenz. Als ob wir das nicht nötig hätten. Haben wir aber. Was nützt mir ein Produkt, dessen Preis und Modewert stimmen, das mich aber vergiftet? Weil das Gift vom Schleier der Intransparenz verborgen wird?
Bei vielen Produkten, die verkauft werden, werden wir simultan zum Kauf für dumm verkauft. Das funktioniert nur so lange, wie wir uns für dumm verkaufen lassen. Wir sollten nicht nur ständig billige und trendige Sachen nachfragen. Wir sollten auch Transparenz nachfragen. Wir sollten öfter bei jenen Herstellern und Händlern einkaufen, die ihre Karten offen auf den Tisch legen. Wir sollten jene Anbieter belohnen, die sich wenigstens die Mühe geben, offen, ehrlich, nachvollziehbar und detailliert zu informieren. Die nach einem Fehler denselben nicht mit der Salami-Taktik scheibchenweise eingestehen, sondern sofort reinen Tisch machen. Die nicht nach dem Bismarck-Motto handeln „Die Leute müssen nicht wissen, wie man Würste macht“, sondern die nach dem Prinzip der Gläsernen Produktion produzieren.
Wenn wir weiterhin in diesem Sinne blind für alles andere als den Preis einkaufen, warum sollten die Unternehmen dann Transparenz ins Regal stellen? Wir vergessen leider nur allzu oft, wer der wirkliche Mächtige in einer Wirtschaft ist: Wir. Die Nachfrage regelt das Angebot. Regeln wir.