Verführung der Macht

Wir leben in aufregenden Zeiten. Da verweigert beispielsweise ein relativ kleiner Zulieferer die Zulieferung – und einer der größten Konzerne Europas steht still. David gegen Goliath – wie kann so etwas immer noch passieren?

Das ist keine biblische, sondern eine strategische Frage. Im Prinzip kann bezüglich der Anzahl der Lieferanten zwischen drei Beschaffungsstrategien unterschieden werden: Single Sourcing, Dual Sourcing oder Multiple Sourcing. Wenn ich für einen Artikel oder ein Bauteil viele gleichwertige Lieferanten habe (Multiple Sourcing), bin ich als Goliath vor David sicher. Selbst wenn es nur zwei Lieferanten sind (Dual Sourcing), ist es unwahrscheinlich, dass sich beide zusammentun, um gegen mich ihre Wünsche durchzusetzen. Habe ich dagegen nur einen, sollte ich täglich nachschauen, ob er nicht schon am Bachufer Kiesel zusammensucht.

Einige Kommentatoren werfen dem bekannten europäischen Konzern deshalb vor, die falsche Strategie gewählt zu haben: Man solle sich keine Davids im Hinterhof halten. Mit Verlaub: Es geht nicht ohne David. Denn für sehr komplexe und/oder strategisch wichtige Artikel, die alternativ oder überdies noch viel Zeit, Geld und Firmeninterna benötigen, um überhaupt erst entwickelt zu werden, findet man selten zwei oder mehr Lieferanten, die so viel vorinvestieren und dann wissentlich in Konkurrenz zueinander treten. Es sei dahingestellt, ob es sich im konkreten Fall wirklich um solche Artikel gehandelt hat, für die Single Sourcing tatsächlich die beste Strategie ist. Ich möchte auf was anderes hinaus.

Nämlich auf: Abhängigkeit ist nicht immer vermeidbar. Aber wenn ich sie in begründeten Fällen schon nicht vermeiden kann, dann halte ich den, von dem ich abhängig bin, doch zumindest bestmöglich bei Laune! Auf BWL-Deutsch: Single Sourcing erfordert fortgesetzte Vertrauenspflege. Wie man hört, waren Beziehung und Vertrauen im konkreten Fall seit einiger Zeit erschüttert. Warum streitet man sich, wenn man doch weiß, dass man sich lieber vertragen sollte? Zumal, wenn man gegenseitig voneinander abhängig ist? Warum pflegt man nicht, was einen verbindet, nämlich die Beziehung? Warum ist man nicht einfach „nett“ zueinander? Das wäre doch vernünftig!

Leider ist die Vernunft stark – aber die Verführung ist oft stärker. Und die Verführung der Macht ist mit das Stärkste, was es gibt im Business und in Beziehungen. Im Lebensmitteleinzelhandel zum Beispiel sind die Discounter-Ketten deutlich mächtiger als viele Hersteller. Wenn ich also als Einkäuferin mit einem Power-Riegel-Hersteller am Verhandlungstisch sitze, seit vier Stunden ergebnislos verhandle, mein Kopf brummt und zu Hause warten die Kinder auf mich, dann ist es fast unmenschlich, der Versuchung zu widerstehen, jetzt nicht mit der Faust auf den Tisch zu hauen und dem renitenten Lieferanten die Leviten zu lesen.  Ich kann es mir ja leisten! Ich habe die Macht! Das ist der Goliath-Test.

Jede(r) prüfe sich selbst: Wenn wir in einer Situation „am Drücker“ sind, die Oberhand, das Sagen haben – verzichten wir dann auf unsere Macht und verhandeln beziehungsneutral weiter? Freiwillig? Oder sprechen wir nicht eher ein Machtwort, natürlich nur „damit wir in der Sache endlich voran kommen“? Natürlich kommt so eine Lösung zustande. Doch gleichzeitig opfern wir der sachlichen Lösung einen Teil der partnerschaftlichen Beziehung. Praktizieren wir diesen unseligen Trade-off zwischen Sache und Vertrauen, zwischen Lösung und Menschen nicht ständig? Dutzendfach am Tage? Das machen wir. Und versetzen David noch einen Dämpfer obendrauf. Dass es in ihm gärt. Bis es aus ihm herausbricht – wie gesehen.

Angesichts dessen, dass bei einem durchschnittlichen Auto 70 Prozent vom Auto nicht vom Hersteller, sondern von Lieferanten kommen, ist das latente David-Risiko immens. Nicht nur in dieser Industrie. Wie viele Single Sources stützen unsere Wirtschaft? Wie viele von ihnen sind schon lange sauer? Was, wenn der aktuelle Fall kein Einzelfall ist, sondern der Auftakt einer David-Revolte ungeahnten Ausmaßes? Dann bricht die Wirtschaft zusammen. Kurzfristig.

Mittelfristig könnte, wie im vorliegenden Fall und ganz im Gegensatz zum biblischen Beispiel, etwas Gutes dabei herauskommen: Das reinigende Gewitter korrigiert die schlagseitige Geschäftsbeziehung. Man verabschiedet sich von der klassischen Hersteller-Lieferanten-Beziehung und bewegt sich in Richtung einer echten Partnerschaft auf Augenhöhe mit gegenseitigem Vertrauen. Also genau das, was das moderne Supply Chain Management ausmachen sollte. In der Bibel hatte Goliath keine Chance. Im Business hat er sie. Wenn er sie nutzt. Wer ist dein David?

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