Eigentlich kommt er nicht, er geht: von Deutschland aus in die ganze Welt. Millionen Tonnen von Müll. Jetzt hat der „Exportseismograph Deutschland“ des Instituts für angewandte Logistik der Hochschule Würzburg-Schweinfurt die Zahlen für 2018 vorgelegt. Erst einmal: ein verdienstvolles Vorhaben. Schön, dass jemand unseren Müll im Auge behält und uns über den Fortschritt unserer Bemühungen um Müllvermeidung auf dem Laufenden hält. Wer bereits im eigenen Haushalt Müll vermeidet, darf sich gratulieren lassen.
Denn im letzten Jahr ging unser Export von Plastikmüll gegenüber dem Vorjahr um 14 Prozent zurück. Gegenüber 2013 ist es sogar ein Rückgang um 20,5 Prozent. Das sind zwei relativ schöne Erfolge. Doch die absolute Zahl dahinter ist immer noch schockierend: Wir exportieren immer noch 1,05 Millionen Tonnen Plastikmüll. Im Jahr. Dabei macht der Plastikmüll lediglich rund 15 bis 20 Prozent vom gesamten Müll aus.
Was die Zahlen ebenfalls zeigen: Das Ziel vom Müll hat sich geändert. Während wir früher viel nach China exportierten, führen wir jetzt stärker in südostasiatische Schwellenländer aus wie Malaysia, Indonesien oder Indien; viel Müll geht auch in die Türkei und die Niederlande.
Nimmt man zum Plastikmüll auch allen anderen Müll hinzu, den wir sonst noch exportieren, kommen 15 Millionen Tonnen im Jahr zusammen – eine schlichtweg unvorstellbare Zahl. Nur zum Vergleich: Wir sind Exportweltmeister und führen als solche mehr Güter aus als jede andere Nation der Welt. Unsere Maschinenbauindustrie exportiert im Jahr zum Beispiel 11,3 Millionen Tonnen an Maschinen – und wird trotzdem um fast vier Millionen Tonnen geschlagen: von unserem Müll. Wir sind sozusagen auch Müllweltmeister der Marktwirtschaft.
Denn in einer Marktwirtschaft ist sogar der Müll ein „Produkt“, mit dem gehandelt wird: Eine Tonne sortenreiner Kunststoffmüll bringt zwischen 650 und 900 Euro ein. Der Plastikmüll wird zu Pellets verarbeitet und dann wieder für die Produktion verwandt. So gibt es zum Beispiel Mineralwasser-Firmen, die mit PET-Flaschen aus 100 Prozent Recycling-Material werben. Wenn Kunststoff ein begehrter Rohstoff ist, warum müssen wir dann überhaupt so viele Millionen Tonnen Müll exportieren?
Weil wir weitaus mehr Plastik produzieren als wir wiederverwerten: Nur circa 15 Prozent vom Plastikmüll werden wiederverwertet. Manche Quellen beziffern die Quote auf 36 Prozent, werden jedoch von anderen Quellen als zu optimistisch beschrieben. Jedenfalls gibt es ein neues Verpackungsgesetz, das vorschreibt, dass bis 2022 dann 63 Prozent vom Plastikmüll wiederverwertet werden müssen. Das ist in zwei Jahren. Wie das zu schaffen sein soll, steht in den Sternen.
Denn dass man heute nicht schon deutlich mehr Plastik wiederverwertet, hat einen Grund: die Verwendung verschiedener Kunststoffe pro Verpackung. Oft stecken 20 bis 30 verschiedene Materialien in so einer Verpackung. Das lässt sich dann nicht mehr unter vertretbarem Aufwand trennen. Manchmal scheint mehr Brainpower in die Verpackung investiert worden zu sein als ins Produkt. Lassen wir uns so leicht von einer hübschen Verpackung manipulieren? Offensichtlich ja, angesichts der Milliarden, die mit unserer Oberflächlichkeit verdient werden.
Was nicht wiederverwertet werden kann, muss dann verbrannt werden. Doch auch dafür reichen die Kapazitäten bislang nicht aus. Weil wir nicht genügend Müllverbrennungsanlagen haben. Niemand will so eine Anlage bei sich in der Nachbarschaft haben. Niemand will den Müll, den er selber produziert, in seiner Nähe haben. Lieber lassen wir ihn mit luftverpestendem Schiffsdiesel tausende Seemeilen weit in fremde Länder verschiffen, wo er auf apokalyptischen Mülllandschaften landet, die dortige Umwelt verpestet, Menschen und Grundwasser vergiftet und übers Meer dann in den Fischen oder wieder bei uns landet. Auf die eine oder andere Weise.
So haben die Philippinen unlängst einen historischen Müll-Sieg errungen, der durch die Medien ging: Sie weigerten sich, einen kanadischen Müllfrachter zu entladen, der „Müll-Betrug“ begangen hatte. Sein gewöhnlicher stinkender Hausmüll war von den kanadischen Auftraggebern als „Plastikmüll“ deklariert worden. Als der Schwindel im Zielhafen aufflog, setzten die philippinischen Behörden den Frachter fest, klagten und forderten die Rücknahme des fehldeklarierten Mülls – was nach monatelangem Streit tatsächlich gelang. Der Frachter musste zurück nach Kanada. Zurück zum Verursacher.
Wobei das Verursachungsprinzip nicht wirklich stringent angewandt wurde und wird. Denn eigentlich verursacht jener den Müll, der ihn (als Verpackung) kauft. Also wir. Hier erhebt sich der moralische Aspekt der Müllsünde.
Schon Kindern bringen wir (hoffentlich) bei: Räum deinen Dreck weg! Wer eine Sauerei anrichtet, macht hinterher auch wieder sauber (das Verursacherprinzip). Nicht wirklich – wie jeder Stadtpark, jede Uferpromenade und jeder 500m-Radius um jeden Fast Food-Tempel demonstrieren. Trotz der massig aufgestellten Mülleimer werfen viele von uns ihren Müll einfach weg. Aus den Augen, aus dem Sinn. Auch eine Art Bildungs- und Erziehungsversagen. Wir bilden unsere Kinder in Algebra und Rechtschreibung aus, schaffen es aber nicht, sie zum Müllentsorgen zu erziehen. Kollektivversagen. Was löst das bei uns aus?
Empörung. Was sonst. Leider gilt: Empörung vermeidet keinen Müll. Protestkundgebungen ebenfalls nicht (im Gegenteil, sie produzieren Müll). Was dann? Der vielbeschworene Bewusstseinswandel. Echt jetzt? Glaubt das wirklich noch jemand? Ich kenne eine erkleckliche Anzahl von Rauchern und Übergewichtigen, die allesamt im vollen Bewusstsein leben, das Rauchen aufgeben und ihre Ernährung umstellen zu müssen – und es trotzdem nicht tun. Bewusstsein allein ändert gar nichts. Es gibt einen Unterschied zwischen Motivation und Volition, zwischen „Etwas wollen“ und „Etwas durchziehen“. Oder wie Erich Kästner sagte: „Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es.“ Von Bewusstsein hat er nichts gesagt. „Bewusstsein“ ist die Ausrede der Tatenlosen oder der Erklärungszusammenhang der Ahnungslosen, die nicht wissen, dass unterm Strich nur Taten zählen. Müll zu produzieren, ist eine Tat. Sich ein „kritisches Bewusstsein“ über die Müllproblematik zu bilden, ist keine (muss das wirklich noch erklärt werden?).
Neulich hörte ich, wie sich Kinder darüber beschwerten, dass es ab sofort zu Hause keine Schokolade mehr gibt. Ich dachte noch: „Gesunde Ernährung?“ Dann stellte sich heraus: keine Verpackung. Die Mutter der Familie kauft nur noch Unverpacktes. Obst und Gemüse im mitgebrachten Netz. Fleisch und Wurst im mitgebrachten eigenen Gefäß. Schokolade dagegen gibt es in ihrer Nähe bislang nur verpackt – also wird keine mehr gekauft. Gewiss: Das ist extrem.
Aber bewundernswert. Und nach drei Wochen hatten sich die Kinder daran gewöhnt. Eines sagte: „Honigbrot ist auch süß. Wir vermissen Schokolade nicht.“ Wann immer ich davon erzähle, merkt eine(r) an: „Aber das ist schon eine Umstellung, das macht Arbeit und Mühe.“ Das stimmt. Es macht Mühe, die Milch nicht mehr im Tetrapack und das Mineralwasser nicht in der PET-, sondern in der Glasflasche, Obst und Gemüse nicht mehr versiegelt, sondern im Mehrweg-Netz zu kaufen und zwanzig Mal am Tag zu denken: Muss diese Verpackung sein? Besorgniserregend ist nicht der Umstand, dass das Arbeit und Mühe macht.
Besorgniserregend ist vielmehr, dass so viele ZeitgenossInnen diesem unbestreitbaren Aufwand bilanziell nichts gegenüberstellen: Der moralische Lohn, die Respektsteigerung vor sich selber, das Gefühl, ein guter Mensch zu sein und das Richtige zu tun, sollte uns allemal so viel mehr wert sein als das bisschen Aufwand.