Menschen?

Vor kurzem war ich mit den Kindern in Paris, wir haben die obligatorische Seine-Rundfahrt gemacht, das ganze Schiff voller Asiaten mit Selfie-Sticks, die heftig sich und die Sehenswürdigkeiten knipsen. Plötzlich sieht jemand, wie ein Mensch nahe dem Schiff ins Wasser fällt. Vom Schiff herunter? Von einer der Brücken? Was passiert?

Alle rennen zur Reling, die Handys schwenken weg vom Eiffelturm und hin zum Ertrinkenden; der intuitiven Kalkulation folgend, nach der ein Ertrinkender sehenswerter ist als der Eiffelturm. Vom Schiff herunter knattern die Salven der Handys, in Sekundenschnelle ist der Todeskampf des Mannes dutzendfach online, die Crew des Schiffes bleibt seltsam gelassen, unaufgeregt, wirft einen Rettungsring ins Wasser – der vom Ertrinkenden verschmäht wird?

Man klärt uns auf: Der Sprung ins Wasser sei die typische Art, sich in Paris das Leben zu nehmen. Von einer Brücke herunter, nahe einem Touri-Dampfer, in der Hoffnung, dass der Dampfer den Todeswilligen unterpflügt. Während dessen kämpft der Mann im Wasser weiter gegen das Weiterleben, ich kann seinen Blick nicht vergessen, aber er schaut einen nicht an, er schaut nur, dann geht er unter, dann taucht er wieder auf.

Endlich erreicht ein Rettungsboot mit Tauchern die Szene, dessen Crew die Ruhe selbst ist. Die Retter sind solche Einsätze gewohnt. Das Touristen-Schiff fährt weiter, die Leute drehen sich von der Reling weg und knipsen wieder den Eiffelturm, der Ertrinkende war nur eine Episode unter vielen beim Paris-Urlaub, wir werden nie erfahren: Hat der Mann überlebt? Lebt er – noch?

Erschüttert vom Erlebten konsultiere ich die Zeitungen, man erfährt: Der Sprung von der Brücke ist die häufigste Art, sich in Paris das Leben zu nehmen, an zweiter Stelle kommt die Metro. Insbesondere viele japanische Auswanderer nehmen sich das Leben und französische Polizisten. Es grassiert geradezu eine Selbstmord-Epidemie unter französischen Polizisten. Ich hatte zuvor nie davon gehört. Meine Erschütterung lässt sich mit der meiner Kinder nicht vergleichen.

Noch Tage danach können sie nicht aufhören, verstört vom Erlebten zu erzählen, empört zu fragen. Warum hat die Crew die Gaffer nicht von der Reling weggeholt ins Innere des Schiffs? Warum machen Menschen Videos von Menschen, die sich umbringen und stellen sie ins Netz? Weil es dafür Smartphones gibt?

Wie können Menschen so unmenschlich sein, so herzlos, so gefühllos? Nun, das sind sie nicht. Die Gefühle der Handy-Schützen waren in diesem Augenblick auf der Seine ausgesprochen intensiv. Oder sind Sensationsgier und die ehrlich empfundene Freude über wieder ein paar Dutzend Likes mehr keine Gefühle? Und erst die Urlaubsfotos! Das ist Notre Dame, das ist der Louvre und das hier ist der Selbstmörder von der Seine, das Video ist ganz nett geworden, findet ihr nicht?, eigentlich ein schöner Paris-Urlaub, nur das Frühstücks-Büfett im Hotel war nicht so gut bestückt wie damals in London. Das ist der Mensch. Mama, warum bringen Menschen sich um?

Weil 20 Retter im Einsatz sind, wenn ein Schwerstdepressiver in einer toddüsteren Minute von der Brücke springt. Monatelang davor kümmert sich kein Mensch um ihn. Therapieplätze sind in Frankreich so rar wie hierzulande. Eine Therapie gibt keine so spektakulären Postings her wie ein Todeskampf im Wasser. Wobei selbst dieser Ansatz den Makel der Entmenschlichung in sich trägt: Wir outsourcen am Leben Verzweifelnde an die Psychiatrie? Als ob sie uns nichts angingen. Als ob „dein Nächster“ ein Begriff aus einem Buch wäre. Wir entantworten uns vom Menschen, wir entmenschlichen uns, das Unmenschliche beginnt nicht erst mit dem Sprung von der Brücke und den Gaffer-Videos.

Neulich schnappte ich zufällig auf, wie eine Gruppe Teenies solche entmenschlichten Videos auf ihren Handys anschaute, jeder versuchte dabei, den anderen mit einem noch unmenschlicheren Video zu übertrumpfen. Irgendwann sagte ein, natürlich, Mädchen: „Hört auf damit! Das ist doch schrecklich!“ In dieser Sekunde beginnt die Menschlichkeit und, wenn wir ehrlich sind, die Menschheit. Nicht mit der Geburt, nicht mit der Einschulung, nicht mit dem Erwerb des Zweitwagens, sondern in dieser Sekunde der Anteilnahme, der Empathie, des Mitgefühls, des echten Miteinanders.

Ich fürchte, das Mädchen hat sich mit seiner Intervention bei seiner Peer Group nicht sonderlich beliebt gemacht. „Spaßbremse!“ Es hat intuitiv den Rettungsring an der Reling des Narrenschiffs ergriffen und ausgeworfen. Nein, nicht „Protest“, sondern „Menschlichkeit“. Wir könnten uns täglich zig-dutzendfach selber und gegenseitig dazu erziehen. Wir haben es so dringend nötig. Der aktuell in der Gesellschaft verbreitete Protest gibt vor, das Klima retten zu wollen. Wir wollen das Klima retten. Können wir uns selbst retten?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert