Elon Musk will zum Mars (https://blogs.fau.de/weltbewegend
/2020/06/29/eine-stadt-auf-dem-mars/). Dort will er Terra Incognita entdecken, unbekannte Regionen erforschen. Warum ausgerechnet auf dem Mars?
Wo es doch hier auf der Erde immer noch das große Unbekannte gibt, zum Beispiel, Stand heute, 80 Prozent des Meeresbodens. Lediglich 20 Prozent davon sind bislang kartographiert. Wobei auf dem Meeresgrund geschätzt deutlich mehr Schätze ruhen als auf dem Mars: Öl, Gas (beide aktuell unpopulär), jedoch auch Erze und Mineralien, zum Beispiel Manganknollen. Warum erst zum Mars fliegen, wenn das Gute liegt so nah?
Dieses Gute möchte das Projekt Seabed 2030 erschließen, das bis zum Jahre 2030 den gesamten Meeresboden erschließen möchte. Es ist 2017 gestartet, als lediglich 6 Prozent davon kartographiert waren. Das Projekt ist eine Kooperation der japanischen Nippon Foundation und der zwischenstaatlichen General Bathymetric Chart of the Oceans (GEBCO; Bathymetrie bezeichnet die topographische Vermessung von Gewässerbetten und Seeböden).
Derzeit hat das Projekt bereits ein Gebiet von der Größe Australiens vermessen. Es fehlen jedoch noch Gebiete, die insgesamt zweimal so groß sind wie die Marsoberfläche. Und diese Gebiete liegen hier, auf der Erde, nicht irgendwo hinterm Mond rechts. Wie muss man sich die Vermessung der Meerestiefen vorstellen?
Ein Schiff alleine wäre damit 350 Jahre beschäftigt. Denn je tiefer das Wasser, desto schwieriger wird die Vermessung. Schwierig und tief wird es bereits ab einer Meerestiefe von 200 Metern – und immerhin 93 Prozent der Weltmeere sind 200 und mehr Meter tief. Deshalb betreibt das Projekt Crowdsourcing. Es werden Daten von der Wissenschaft, von staatlichen Behörden und von kommerziellen Schiffen zur Erschließung herangezogen. In der Zukunft möchte man auch unbemannte Schiffe einsetzen, um bis in zehn Jahren fertig zu werden mit dem Riesenprojekt, das rund 3 Milliarden US-Dollar kosten soll. Was soll das bringen?
Einiges. Je besser die Meere vermessen sind, desto besser können Forscher nachvollziehen, wie Tsunamis entstehen – und die Warnsysteme verbessern: Das rettet Zehntausende Menschenleben. Außerdem können andere Forscher damit besser quantifizieren, um wieviel der Meeresspiegel wegen des Klimas, das wird kaputtgeheizt haben, steigen wird. Bessere Karten helfen Industrieunternehmen, unterseeische Mineralien und Erze leichter und schneller zu finden. Bessere Daten helfen auch jenen Unternehmen der Telekommunikationsindustrie, die Unterwasserkabel von Küste zu Küste verlegen. Das Beste daran: Diese wertvollen Daten sind (bislang) frei verfügbar, öffentlich zugänglich, ein Musterbeispiel für echte Wissenschaft: Einige schaffen Wissen und viele nutzen es unentgeltlich.
Und nun zu etwas völlig Anderem: Am 20. Juli schickt die NASA ihren Rover-Roboter zum Mars. Für 2,5 Milliarden US-Dollar. Um neue Welten zu erschließen, während die alte Welt nicht einmal annähernd erschlossen ist. Was sagt das über uns?
Über uns, die wir nach Art der Mietnomaden das aktuelle Heim zugrunde richten und anstatt es zu renovieren, es lieber in die Tonne treten und uns auf zu neuen Welten machen? Warum machen wir das?
Weil die Welt nichts mehr zu bieten hat? Wohl kaum, wie die unermesslichen Schätze auf dem Meeresboden zeigen. Weil wir die Erde bereits aufgegeben haben? Hoffentlich nicht! Weil es mehr Schlagzeilen abgibt, zu irgendeinem Planeten zu fliegen, während auf dem Meeresboden eben diese Schätze eher im Verborgenen darauf warten, gehoben zu werden?
Das ist eine interessante These, die Prof. Michael Ashley im Forbes-Magazin (24.11.2019) so beschrieb: Jeder vernünftige Mensch ist inzwischen „sick of the attention economy“. Wobei der Begriff der Attention Economy bereits 1971 von Herbert A. Simon geprägt wurde und ungefähr sagt: Vieles, was bitter nötig ist, zum Beispiel Klima- und Umweltrettung, saubere Luft, Digitalisierung der Bildung, Schutz der Rechte von Kindern, menschliche Arbeitsbedingungen in Schlachtbetrieben, bessere Pflege in Seniorenheimen, Verhinderung von Altersarmut oder die Vermessung der Meere bekommt in Relation zu Unterhaltung, Sensationen, Skandalen, Marsflügen, anderen Publicity Stunts und Online Shopping schlicht zu wenig Aufmerksamkeit. Und in der Attention Economy gilt: No Attention – No (or Low) Production. What gets attention, gets done – the rest gets more or less ignored.
Wenn die Welt also tatsächlich mal untergeht oder das Klima kippt oder unsere Kinder außer Swipen gar nichts mehr zustande bringen und wir uns nach Eintreten der Katastrophe sagen „Das hätten wir uns auch vorher denken können!“, sagen die Gesetze der Attention Economy: „Denken sicher – aber Denken nützt nichts, solange ihr auf das, woran ihr denkt, zu wenig Aufmerksamkeit verwendet.“
Angesichts dessen, dass die Attention Economy bereits seit 50 Jahren diskutiert wird, sind die Chancen zwar äußerst schmal. Doch vielleicht lernen wir noch, bevor es komplett zu spät ist, der Versuchung unserer histrionischen Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit so lange zu widerstehen, bis wir wenigstens unsere dringendsten Probleme gelöst haben. Ich wünsche es uns.