Panik, Chaos, Corona

Ich bin erschüttert, wie die Leute mit Corona umgehen. Gewiss: Viele verhalten sich vernünftig, tragen Masken, waschen sich die Hände, halten Abstand und verzichten momentan auf Orgien. Doch die aktuelle Krise bringt nichts heftiger, rasanter und explosiver ans Tageslicht als die galoppierende, schäumende und haareraufende Unvernunft. Virus-Krise?

Krise der Vernunft! Zum Beispiel Urlaub: Während die einen sich ballermann-artig saufend an Stränden massieren, bis die örtlichen Behörden wegen sprunghaft gestiegener Infektionen den Lockdown ausrufen und Hotellerie und Gastronomie in den Ruin treiben, sinnieren die anderen laut im Bekanntenkreis darüber nach, ob man dieses Jahr überhaupt noch in den Urlaub fahren könne. Weil man sich beim Urlaub in freier Berg- oder Strandluft leichter ansteckt als im schlecht gelüfteten Büro mit zig stationären und ungetesteten Viruswolken?

Das erinnert mich an die Nordic Walker oder die Radfahrer, die mir gelegentlich mit Alltagsmaske entgegenkeuchen. Ich frage mich da immer mit erstaunt geweiteten Augen: Ist das ein Statement? Hysterie? Die ostentativ zur Schau getragene Haltung „Holier than thou“? Oder schlicht Panik und Hysterie?

Dann die Atteste: Meldungen zufolge muss es einen blühenden Schwarzhandel mit Attesten geben, die Attest-Besitzer vom Maskentragen befreien – nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern aus Protest gegen die „unverhältnismäßige Einschränkung der Bürgerrechte“ durch den Staat. Mindestens ein Doktor (der Medizin?) soll das Attest-Formular sogar ins Internet gestellt haben, damit es sich alle ausdrucken und selber ausfüllen können. Wenn nicht mal mehr eine Promotion vor anfallartiger Unvernunft schützt! Und Medien und Internetbesserwisser nennen solche Leute euphemistisch „Verschwörungstheoretiker“. Warum nennt niemand die zugrundeliegende Persönlichkeitsstörung beim Namen? Paranoia? Wo sind die Kolleginnen und Kollegen von der psychologischen Fakultät, wenn man sie zur Aufrechterhaltung der Volksvernunft braucht? Haben sie uns schon aufgegeben? Halten sie die Vernunftkrise für schlimmer als die Viruskrise? Halten Sie?

Eine gute Bekannte meinte dazu: „Ich kann unter dem Ding auch nicht ordentlich atmen, aber ich setze sie auf, wo ist das Problem? Man macht sich deswegen doch nicht selber verrückt. Haben diese Hysteriker denn nichts Besseres zu tun?“

Ganz offensichtlich nicht, und das ist das eigentlich Beunruhigende. So viele Menschen denken nicht: „Hoppla, wir haben eine Pandemie – wie können wir diese schnellstmöglich bewältigen?“ Sie denken vielmehr: „Hoppla, wir haben eine Pandemie – wie kann ich diese bestmöglich zur Artikulation meiner Persönlichkeitsstörung missbrauchen?“ Also erfindet der Paranoiker Verschwörungs„theorien“, die Histrionikerin spielt sich wie nochwas auf, der Narzisst weiß alles besser und die Obsessiv-Kompulsive ermahnt dich im Supermarkt mit Oberlehrerstimme, wenn dir die Maske vom Nasenrücken auf die Nasenspitze gerutscht ist. Und selbst das ist nicht das Schlimmste.

Es ist nicht schlimm, wenn Neurotiker ihre Neurose ausagieren – was sollen sie sonst tun? Dafür ist sie schließlich da. Entnervend finde ich jedoch, dass sich kaum einer der Restvernünftigen getraut, der Vernunft zur Geltung zur verhelfen und solche Leute auf die nächste Therapiestunde zu verweisen. Das ist es, was Arno Gruen mit seinem frühen Bestseller „Der Wahnsinn der Normalität“ gemeint haben könnte: Was heute als Normalität durchgeht, ist der Wahnsinn. Doch auch dieser Wahnsinn hat Methode und einen überragenden sekundären Krankheitsnutzen: Wer wahnsinnt, muss nicht über die Realität nachsinnen.

Zum Beispiel darüber, dass etliche Branchen so gut wie erledigt sind. Wir waren kürzlich auf Formentera: Nach unserer Abreise haben sie die Strände hochgeklappt und die Insel de facto für den Reiseverkehr geschlossen. Die machen erst wieder im Juni auf – im Juni 2021. Weil die Virus-Panik einen apokalyptischen Storno-Tsunami ausgelöst hat. Ich weiß, dass die PC-Polizei die Frage nicht erlaubt, doch die Menschen auf Formentera fragen sich das natürlich trotzdem: Was ist schlimmer – das Virus oder der Existenzverlust?

Noch schlimmer ist der Vorschlag, der unter Beamten der kommunalen Verwaltung sporadisch kursiert. Ihr Argument: Das einzige, was jetzt hilft, ist testen, testen, testen. Doch die Gesundheitsämter kommen mit Tests und Nachverfolgung nicht nach, weil sie unterbesetzt sind, während viele Kolleginnen und Kollegen anderer Behörden und Ämter im Home Office sitzen und nichts machen können, weil die Software vom Amt zu Hause nicht läuft. Warum also werden die beschäftigungslosen Kolleginnen und Kollegen nicht zeitweilig auf die Gesundheitsämter versetzt, wo sie hinterhertelefonieren und Daten übermitteln können? Das ist eine gute Frage – sachlich betrachtet.

Doch sachlich ist das Letzte, was in Corona-Zeiten gefragt ist, wie das Gegenargument, ebenfalls aus der Beamtenschaft, belegt: „Beamte in fremde Ressorts versetzen? Das geht doch nicht.“ Wann ginge es? Ab welcher Infektionshöhe?

Oder die Bekannte aus einem osteuropäischen Risikogebiet, die hierzulande arbeitet und zum Geburtstag ihres Schwiegervaters die Heimat besuchen möchte: Einige ihrer Kolleginnen und Kollegen drohen damit, dass sie der Arbeit fernblieben, sobald die Kollegin wieder zurück sei. Warum das denn, wenn die gute Frau nach ihrer Rückkehr in Quarantäne geht und erst wieder mit einem negativen Testergebnis ins Büro kommt? Während in derselben Stadt fast jedes Wochenende Dutzende von Jugendlichen „Corona-Partys“ feiern – jeder in der Nachbarschaft weiß, wo und wer, nur die Polizei nicht.

Aber nein, da versuchen wir lieber, die nette Kollegin praktisch in Kollegen-Haft zu nehmen und ihr die Heimreise zu verbieten – weil der Wahnsinn doch irgendwo raus muss und Sündenböcke in Krisen billig zu haben sind.

Ein Kollege erzählte mir, er sei jüngst geflogen, mit einer milliardenschwer krisen-subventionierten Fluggesellschaft: „In der Lounge gab’s nichts zu trinken – geschenkt. Die Flugbegleiterinnen jedoch standen auf dem Flug wie die Kellner im Restaurant in Grüppchen zusammen und tratschten, wahrscheinlich über Corona, während ich immer noch auf etwas Trinkbares wartete und heftig Zeichen gab. Die könnten sich zumindest dankbar zeigen für die Milliarden, die wir von unserem Steuergeld in ihre Weiterbeschäftigung gesteckt haben. Warum tun die das nicht?“

Guter Mann, was für eine Frage! Weil es ihnen zusteht! Mit dieser Anspruchsmentalität gehen bestimmte Berufsgruppenvertreter durch die Krise. Dass die Krise Egoisten erbarmungslos entlarvt, ist mir kein wirklicher Trost. Und wenn noch jemand den Ausdruck „Schwarmintelligenz“ fallen lässt, kriege ich eine ganz andere Art von Krise. Wer wissen will, wie intelligent Schwärme wirklich sind, braucht bloß ins Internet zu gehen und die Hunderttausenden Likes von absolut hanebüchenen Aufstachlern wie auch Corona-Leugnern zu begutachten. Nicht nur Intelligenz ist ein Schwarmphänomen, auch Panik. „Herr, schmeiß Hirn runter!“ heißt es im Schwäbischen, wir hätten es nötig.

Vernunft fehlt allenthalben. Da gibt es zum Beispiel von Amts wegen einen Schnelltest, doch wenn man diesen nicht bis 15 Uhr beantragt und absolviert, ist der Schnelltest gar nicht mehr schnell. Wann gibt es einen wirklich schnellen Schnelltest, der 24/7 verfügbar ist? Oder die Schulen – ein Thema, das dem Thema Bildung Hohn spricht.

Da werden zwei Schulen kurz nach Schulbeginn wieder geschlossen, weil sich die Kinder angesteckt haben – bei ihren Lehrern. Warum wurden die Lehrerinnen und Lehrer vor Schulbeginn nicht getestet? Gibt es einen Grund dafür, der diesseits des Irrsinns verortet ist? Und kann ihn mir jemand nennen? Nach ihrer Infizierung gehen die Kinder dann in Quarantäne und dürfen nicht mehr in die Schule – doch ihre Geschwister schon. Was ist das denn für eine Logik? Corona-Logik?

Selbst Intelligenz schützt nicht vor Dummheit. Viele Hochschulen beobachten einen neuen Corona-Trend: Abiturienten schieben ihren Studienbeginn ins nächste Jahr, „bis wieder alles normal läuft“. Wie dumm ist das denn? Die digitale Stoffvermittlung ist doch kein Corona-Phänomen, das in zwei bis drei Jahren wieder dem Präsenzunterricht gewichen sein wird. Die Zukunft des Lernens und Studierens wird immer eine Mischung aus Präsenz und Online sein – zum Vorteil für Kids und Studis, die in einer digital transformierenden Welt aufwachsen: Je früher sie lernen, auch digital zu lernen, desto besser.

Angesichts dessen vertrödelt man doch als Abiturient nicht grundlos ein Jahr und schiebt das auf Corona, anstatt zu sagen: „Leute, ich hab kein‘ Bock auf Studieren und liege Papa erst mal für ein weiteres Jahr auf der Tasche.“ Das wäre wenigstens ehrlich und keine Selbsttäuschung. Was aber ist die größte aller Selbsttäuschungen?

Das, was ich von so vielen höre: „Jetzt ist langsam genug mit Corona. Jetzt muss endlich wieder Normalität einkehren!“ Halloho?

Das ist Realitätsverweigerung. Wir haben doch schon de facto längst normal. Denn das Virus geht auf absehbare Zeit nicht weg. Wir haben längst normal: neue Normalität. Also sollten wir unsere ganze Energie darauf verwenden, nachzudenken und zu konzipieren, wie wir das neue Normal bestmöglich gestalten wollen. Wie wir möglichst viele Zulieferer, Gastronomen, Hoteliers, Künstler, Musiker, Theaterleute, Start-ups, Weiterbildner, Trainer und Reisebüros retten oder deren Strukturwandel beschleunigen können. Wie wir trotz Maske, Händewaschen und Abstand möglichst „normal“ weiterleben und arbeiten können. Oder wie wir ganz pragmatisch an einen echt schnellen Schnelltest rankommen.

Beim Schwangerschaftstest reicht ja auch draufpinkeln, wedeln, auf 60 zählen – et voilà: Ergebnis. Je schneller man’s/frau’s weiß, desto besser. Corona-Schnelltests für alle, in jedem Drogeriemarkt! Wer entwickelt’s? Welches Start-up nimmt sich dessen an? Welche Regierungsbehörde fördert das mit wieviel Budget? Das wäre doch mal eine vernünftige Idee.

Überhaupt: Vernunft. Nicht erst seit Corona die knappste Ressource der Welt.

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