Unsere Helden

Den Ärger kennen wir: Wir brauchen noch schnell was vom Supermarkt oder Discounter, fahren hin, greifen ins Regal und greifen ins Leere. Wir ärgern uns. Über wen?

Natürlich über den Händler, weil er die Ware nicht da hat. Dabei kann dieser in den meisten Fällen nichts dafür. Sein Warenwirtschaftssystem hat längst das Unterschreiten des Sicherheitsbestands angezeigt und die Bestellung beim Hersteller ausgelöst. Und der Hersteller möchte liefern! Die Ware liegt bei ihm im Lager! Doch niemand fährt sie.

Im Zeitalter der Digitalen Transformation klingt das verrückt, doch „verrückt“ beschreibt die Misere exakt: Einer Nation von Online-Verrückten und Kaufberauschten fehlt es an LKW-Fahrern.

Derzeit fehlen ungefähr 45.000 Fahrer. Jährlich gehen 67.000 in Rente, doch nur 27.000 neue Fahrer kommen hinzu. Die LKW-Fahrer gelten als Berufsgruppe mit dem ältesten Durchschnittsalter – noch vor Frisörinnen. Im Schnitt fahren jährlich 550.000 Berufsfahrer ihre LKWs. Davon sind 150.000 zwischen 55 und 65 Jahre alt. Die gehen in den nächsten zehn Jahren alle in Rente.

Gleichzeitig bleibt die Zahl jener, die jünger als 55 Jahre sind konstant: Die Abgänge werden also nicht ausgeglichen. Hinzu kommt: Jährlich steigt auch wegen des Online-Kaufrauschs der Bedarf an LKW-Fahrern um zwei Prozent. Das sind grob 10.000 Fahrer, die wir zusätzlich bräuchten, aber nicht kriegen. Wir wollen kaufen, Händler wollen verkaufen, Hersteller liefern und Spediteure transportieren – aber alle schauen in die Röhre, weil es an Fahrern fehlt. Wo sind sie hin?

Die einen sind zurück nach Osteuropa. Ihre Heimatländer haben sich so gut entwickelt, dass sie nicht mehr in und für Deutschland fahren müssen. Also können die Spediteure nicht mehr mit ihnen ausgleichen, was an deutschen Fahrern fehlt. Warum fehlen zehntausende deutscher Fahrer?

Weil LKW-Fahrer fast schon aus Prinzip schlecht bezahlt sind. Weil die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hinterm Steuer eines LKW ein Oxymoron ist: Welcher Ehepartner akzeptiert heute noch, dass der Partner von Montag bis Freitag Fernverkehr fährt und fern der Heimat ist?

Hinzu kommt das gesellschaftliche Stigma: Stell dir vor, du bist 18 und erzählst deinen Homies abends auf der Party, du willst LKW-Fahrer werden – der Spott ist dir gewiss.

Dann: Big Brother. Früher hatte man „auf dem Bock“ noch seine Ruhe – die Freiheit der Landstraße! King of the road! Was für ein Abstieg! Heute ist der Fahrer jede Sekunde seines beruflichen Daseins der kommode Knecht der Telemetrie, vom digitalen Fahrtenschreiber, dem GPS und seinem Handy. Lückenlos überwacht und permanent für den Disponenten erreichbar, dem es nie schnell genug gehen kann. Die Termine sind stets enger als die Fahrtzeiten, ein einziger Stau kann dir den ganzen Tag verhageln: Brummi-Fahrer ist heutzutage ein Hochstress-Job, gegen den Hirnchirurg und Bombenentschärfter geradezu geruhsam und geregelt erscheinen.

Und ständig diese Vibration unterm Allerwertesten, der Lärm, der Abgas-Mief, fahrfremde Tätigkeiten wie Be- und Entladen, die körperlich auslaugen bei gleichzeitig zu wenig „Auslauf“. Die permanente Übermüdung, die Staus, das angespannte Arbeitsklima, die Verständigungsschwierigkeiten mit den ausländischen Kollegen*innen und der Dank dafür? Man wird als Stauquelle, Verkehrshindernis und Luftverschmutzer angehupt. Und alle sind unglücklich.

Wir könnten noch mehr und noch schneller kaufen, die Händler noch mehr verkaufen, die Hersteller noch mehr herstellen und die Spediteure noch mehr transportieren. Sie haben mehr Aufträge als sie Fahrer haben. Also überbieten sie sich auf sehr moderatem Niveau: Zahlt Spedition Meier auch nur 20 Euro mehr als Spediteur Müller, ist der Fahrer weg – mit oft katastrophalen Folgen.

Denn das Speditionsgewerbe besteht hauptsächlich aus kleinen und mittelgroßen Unternehmen, die höchstens einen bis drei Fahrer haben – springt auch nur einer ab, steigt das Insolvenzrisiko sprunghaft. Auch die Hersteller geraten mit jedem Quartal mehr in Not.

Braucht ein Händler zum Beispiel dringend eine Palette Süßwaren und will der Hersteller sie dringend loswerden, sagt der Spediteur immer öfter: „Sorry, aber wegen einer Palette fahre ich nicht für euch, wenn ich für einen anderen Hersteller die ganze Karre vollladen kann!“

Dann greift der Marktpreismechanismus: Spediteure haben weniger Fahrer als sie Aufträge haben – also listen sie konsequent jene Hersteller und Händler aus, die nicht das bezahlen, was andere bezahlen können: Die Logistikkosten und die Versorgungslücken nehmen zu.

Der Handel erleidet Regallücken und Lieferengpässe, entgangenen Umsatz und abwandernde Kunden: Wenn ich meine Lieblingsschokolade nicht beim Handelshof kriege, hole ich sie mir eben beim Rewe – und bleibe auch für die nächsten Einkäufe dort, denn im Preis schenken sich die Händler im Schnitt wenig. Früher hat der Preis über den Wettbewerb entschieden, zukünftig ist es mit der LKW-Fahrer. Was wird dagegen getan?

Spediteure, die es sich leisten können, erneuern ihre Flotte. Denn für einen LKW-Fahrer macht es einen Riesenunterschied, ob er mit einem zehn Jahre alten Dieselqualmer oder einem fabrikneuen Gefährt fahren kann. Clevere Spediteure sorgen auch dafür, dass Fahrer oder Fahrerin feierabends daheim bei der Familie sind: Begegnungs- statt Fernverkehr. Der Fahrer fährt nicht mehr von München nach Hamburg, sondern „nur noch“ bis Frankfurt, wo er seinem Kollegen begegnet, der die Fracht bis nach Hamburg hochfährt. Der Münchner Kollege selber ist abends wieder zu Hause in München.

Oder Stafetten-Verkehr: Ein Fahrer fährt zum Beispiel gerne nachts – kaum Staus, wenig Verkehr. Dann fährt er zwar bis Hamburg hoch, haut sich dort aber in die Koje, weil ein Kollege die Verteilung der Ladung innerhalb Hamburgs übernimmt. Abends fährt der ausgeschlafene Kollege mit neuer Fracht zurück nach München – und beide sind zufrieden. Der Nachtfahrer und der Fahrer, der am liebsten nie aus Hamburg raus möchte. Je stärker die Spediteure auf die Bedürfnisse ihrer Fahrer eingehen, desto attraktiver werden die Jobs.

Etliche Spediteure haben auch Fahrer-Betreuer eingestellt. Das ist so eine Art Sorgen-Telefon für Brummi-Fahrer. Denn, wie gesagt: Der Stress in diesem Beruf ist irre im Sinne des Wortes. Und auf dem Bock ist es einsam – keiner zum Reden da. Also ruft der Fahrer seinen Betreuer an und lässt so richtig Dampf ab über wahnsinnige Liefertermine, massig Staus, verdreckte Toiletten, keine Duschmöglichkeiten und die absurden Vorstellungen des neuen Disponenten, der tatsächlich glaubt, LKW-Fahrer würden die Kunst der Zeitreise beherrschen. Der Betreuer hört sich das alles nach bester Sigmund-Freud-Manier an – und kümmert sich dann darum, dass etwaige Missstände abgestellt werden.

Auch einige Hersteller sind schon auf den Trichter gekommen. Sie schaffen zum Beispiel intern Transparenz über die aktuelle Entwicklung der Logistikkosten. Denn in vielen Unternehmen werden Logistikkosten bei der jährlichen Budgetplanung seit Jahren unter „Da müssen wir wieder ordentlich einsparen!“ verbucht. Viele Unternehmensleitungen haben tatsächlich noch nicht mitbekommen, dass die Karawane mittlerweile in die umgekehrte Richtung unterwegs ist: Die Logistikkosten steigen.

Viele Hersteller strengen sich auch mächtig an, ihre Ladevolumen zu glätten: Donnerstag ist Großkampftag, bei dem immer wieder zu viel liegenbleibt? Also versuchen sie, etwas von diesem hohen Volumen auf Mittwoch und Dienstag zu verteilen.

Viele Lebensmittelhändler machen das Gegenteil von Just in Time: Sie haben Sicherheitsbestände erhöht. Andere intensivieren die eigene Beschaffungslogistik: Wenn der Hersteller nicht liefern kann, weil seinem Spediteur die Fahrer fehlen, dann rekrutiert der Händler einen eigenen kleinen Spediteur in der Nähe, der zum Hersteller fährt und die Ware selber abholt. Oder der Händler legt sich, wenn er groß genug ist, selber einen Fuhrpark zu. Amazon macht das gerade massiv in den USA.

Einzelne Händler öffnen ihre Lager inzwischen auch an Samstagen, damit der Spediteur nicht nur vier oder fünf Tage zum Anliefern hat, sondern einen sechsten dazubekommt. Das funktioniert jedoch nur, wenn der Spediteur nicht sagt: „Wegen einer einzigen Palette lasse ich doch samstags keinen Fahrer kommen!“ Das funktioniert nur, wenn viele Händler in der Region ihre Paletten so zusammenlegen, dass ein Laster voll wird: Kooperation, Kollaboration.

Das sind die Stichworte und: Optimierung der Ladeauslastung durch mehr Transparenz in den Prozessen. Das ist der entscheidende Hebel. Man muss die LKW, die fahren, optimal auslasten. Das passiert längst nicht: Es fahren immer noch viel zu viele (halb)leere LKW durch die Landschaft – trotz Fahrernotstand. Ein Händler sagt dazu: „Wir müssen endlich begreifen, dass wir Konkurrenten im Regal sind – aber nicht auf dem LKW!“

Selbst die Warteschlangen-Theorie kann helfen: mit modernen Rampen-Konzepten. Es kann in Zeiten des Fahrermangels nicht sein, dass dringend benötigte LKW stundenlang vor der Rampe warten, weil Lager von Herstellern und Händlern immer noch mit festen Zeitfenstern arbeiten.

Wenn also Händler, Hersteller und Spediteure mehr Transparenz darüber schaffen, wo was fährt, kann der Fahrermangel etwas ausgeglichen werden – ja? Nein. Zu dritt schaffen sie das nicht. Es braucht eine neutrale Instanz, die alle an einen Tisch bringt, den Prozess moderiert und auch die passende Infrastruktur dafür schafft. Wo bleibt die Politik oder Verbände, wenn man sie braucht?

An dieser Stelle meine Entschuldigung an alle Technik-Fans, denen seit zig Zeilen der Einwand auf den Nägeln brennt: Aber mit dem autonomen Fahren brauchen wir doch gar keine Fahrer mehr!

Ja, das kann irgendwann die Lösung sein – mit der Betonung auf „irgendwann“. Ab wann würden Sie denn einen zig-tonnen-schweren Sattelauflieger ohne Mensch am Steuer durch Ihre Stadt donnern lassen? In drei Jahren? In fünf? Wenn Ihre Kinder groß genug sind, um ein gepanzertes Fahrzeug zu fahren?

Dieses Problem fällt uns gerade richtig auf die Füße: Wir haben die Grenzen des Wachstums längst erreicht – und sie liegen nicht in den erschöpften Ressourcen, wie der Club of Rome in seinem gleichnamigen Bestseller mutmaßte. Wir verlieren jedes Jahr massives BIP-Wachstum nicht wegen einer Finanzkrise oder einer Pandemie, sondern weil uns ganz schlicht und ergreifend Fahrer fehlen. Einerseits tut das der Umwelt gut, dem Klima, den Feinstaubgeschädigten und der Verkehrslage.

Andererseits ist das eine ganz eigene Art des Wahnsinns: Die Hersteller geben Jahr für Jahr Milliarden für Produktentwicklung und Marketing aus, um mehr Produkte zu verkaufen und wir lassen uns von Produkt und Marketing begeistern, aber wie sollen und wollen wir das alles kaufen, wenn es out of stock ist? Nicht Entwicklung, nicht Produkt oder Marketing sind der Flaschenhals, sondern der LKW-Fahrer. Er ist der unbesungene Held der Logistik.