Die Sache mit dem Schmetterling

Seit über einem Jahr hören wir, wie Corona die Welt verwüstet. Gute Nachrichten sind selten; hier kommt eine: Die Seefracht boomt!

Natürlich leiden viele Branchen immens. Ganz schlimm hat es die Dienstleistung erwischt: Friseure, Fitness-Studios, Kinos, Theater … alle dicht. Doch der Online-Handel boomt, die Nachfrage nach Konsumgütern macht Sprünge: Unterhaltungselektronik, Kleidung, Möbel, Kinderbücher … Und je mehr wir online bestellen, desto besser geht es der Logistik-Branche und dem Welthandel, weil das ganze Zeug, das wir bestellen, zu großen Teilen aus China und Asien kommt. Zyniker bezeichnen den Online-Kaufrausch als „Ersatzbefriedigung“ für Reisen, Ausgehen, Konzerte besuchen, abends zusammensitzen.

Und weil so vieles aus Übersee kommt, das wir bestellen, boomt auch die Seefracht und mit ihr die Reedereien. Hapag-Lloyd zum Beispiel steigerte letztes Jahr sein Ergebnis vor Zinsen und Steuern gegenüber dem Vorjahr um mehr als 50 Prozent auf 1,3 Milliarden Euro. A.P. Moeller-Mersk steigerte den Gewinn im dritten Quartal von 520 Mio. US-Dollar 2019 auf 947 Mio. Dollar im letzten Jahr. Wenn es nicht ein wenig seltsam wäre, könnten wir uns dazu gratulieren! Denn immerhin haben wir mit unseren Bestellungen dazu beigetragen.

Der zweite Beitrag zu solch exorbitanten Gewinnsteigerungen ist der Ölpreis, der 2020 krisenbedingt deutlich fiel. Ein dritter Faktor ist der Anstieg der Frachtraten. Denn es kam zu einem Engpass: Container. Es gibt nur eine finite Anzahl von ihnen. Normalerweise reicht ihre Menge locker plus Reserve. Doch normal ist unser Corona-Kaufrausch schon lange nicht mehr: Die Container gehen aus, was deren Preis in schwindelerregende Höhe treibt. Der Preis für einen Container zum Beispiel von Asien nach Europa liegt derzeit um das Sieben- bis Zehnfache höher als üblich. Vor etwas mehr als einem Jahr kostete ein 40-Fuß-Container von China nach Nordeuropa beispielsweise rund 2.000 US-Dollar. Heute sind es oft mehr als 9.000 Dollar. Ein Rückgang der Preise ist nicht in Sicht, weil auch ein Ende der weltweiten Lockdowns oder gar der Pandemie nicht in Sicht ist und so schnell so viele neue Container nicht zusammengeschweißt werden können. So gesehen haben wir Konsumenten Glück: Unsere Preise sind (noch) relativ stabil; die Container-Krise schlägt nicht bis zu uns durch. Und nicht nur die Container gehen aus.

Auch Schiffe werden knapp. So knapp, dass zum Beispiel sämtliche 234 Container-Schiffe von Hapag-Lloyd nonstop unterwegs sind und die Reederei noch vor Weihnachten sechs neue Schiffe im Wert von rund einer Milliarde Dollar in Auftrag gegeben hat – gut für den Schiffsbau, der in normalen Zeiten immer etwas darbt.

Selbst die Häfen kommen nicht mehr hinterher mit dem Löschen und Verladen der Seefracht. Vor den US-Häfen müssen einige Schiffe bis zu einer Woche warten, bis sie einen Liegeplatz am Kai bekommen. Und was unsere Bestellwut im Hinterland auslöst, steht auf einem noch ganz anderen Blatt:  Zugverkehr, LKW-Flotten, Lagerimmobilien – alle sind derzeit mehr als gut ausgelastet. Die Logistik erlebt ein Hoch ohnegleichen, was uns das berühmte Gleichnis aus der Chaostheorie überdenken lässt.

Angeblich soll der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen können – so die angebliche Exemplifizierung der Chaostheorie. Doch viel lebensnäher und wahrscheinlicher als diese leicht phantastische Erklärung ist die realistische Betrachtung globaler Lieferketten: Ein Mausklick in Bietigheim-Bissingen kann einen Container-Krieg auslösen – sobald man die Klicks einer Nation aggregiert.

Und das Ganze kann nach der Pandemie genau so schnell wieder in sich zusammenbrechen: Das Mehr an Schiffen und Containern wird nicht mehr gebraucht, die Überkapazitäten sorgen für drastisch fallende Frachtraten, die Werften entlassen Werftarbeiter – bloß weil wir statt uns den Finger in den Online-Shops wund zu klicken abends wieder ins Restaurant gehen. Trotzdem wäre die Alternative undenkbar: Wir mäßigen hier und heute unseren Online-Konsum. Dann würden auch die Transportbranche und der Online-Handel in Not geraten und das könnte eine Krise zu viel für die Weltwirtschaft sein. So gesehen erfüllen wir weiter unsere patriotische Pflicht – mit dem Mausfinger.