Die ganzen Katastrophen

Katastrophen hatten wir in diesem Sommer genug. Und wann immer Unwetter, Fluten, Orkane, Dürren oder Dammbrüche zuschlagen, passiert was?

Natürlich, die Medien und das Internet überschlagen sich; aber das war nicht gemeint. Gemeint ist vielmehr: Kaum ist der letzte Donnerschlag verklungen, rückt das Heer der Hilfskräfte an. Ganz erstaunlich, wie schnell, gut ausgerüstet, zahlreich, professionell und auch freiwillig und kompetent die Helfer helfen, retten, erstversorgen, räumen und wiederaufbauen. Das können sie nicht mit leeren Händen.

Katastrophenhilfe funktioniert nur dann, wenn davor und dabei die Krisenlogistik funktioniert. Die Hilfsbereitschaft der meisten Menschen ist im Katastrophenfall ganz erstaunlich. Doch auch ihre Hilfe hilft nicht, wenn nichts oder zu wenig da ist, das hilft. Hilfe ist nur dann hilfreich, wenn die vielen Helfer auch die nötigen Hilfsmittel in der richtigen Menge und Qualität am richtigen Ort zur rechten Zeit zur Verfügung haben. Und tun sie das, ist das dann was?

Logistik pur – was gerne übersehen wird. So zieht zum Beispiel der Bergepanzer nicht sofort die bis ans Dach überfluteten PKW aus dem Hohlweg, sondern erst dann, wenn er über Stunden, manchmal Tage ans Krisengebiet herangeführt wurde. Noch viel trivialer: Bei manchen Einsätzen der jüngsten Flutkatastrophen meldeten sich bereits in den ersten Stunden nach Fluthöchststand Tausende Freiwillige – doch es fehlte an so etwas Banalem wie Gummistiefeln, um sie zum Rettungseinsatz trockenen Fußes in die Fluten zu schicken: Organisation ist die halbe Krisenlogistik. Man kann nur jene Gummistiefel verteilen, welche die Krisenlogistik vorgehalten und verteilt hat. Dasselbe galt vor etwas mehr als einem Jahr beim Corona-Ausbruch: Niemand hatte für Krankenhäuser und Seniorenheime genügend Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel gebunkert. Obwohl das Risiko-Management auf allen Ebenen bereits seit Jahrzehnten Krisenpläne für Pandemie-Szenarien vorgelegt hatte. Doch der beste Plan nützt nichts, wenn aus der Planung keine Krisenlogistik erwächst. Diesen simplen Zusammenhang, diesen logischen Bruch zwischen Szenario und Supply Chain haben noch nicht wirklich viele Entscheidungsträger erkannt – oder gar behoben. Dabei könnte dieser Bruch relativ einfach gekittet werden. Sozusagen per Handbuch.

Denn es gibt tatsächlich so etwas wie ein „Internationales Krisen-Handbuch“. Es stammt von der Sphere Organization, einer Non-Government-Organisation, die sich darauf spezialisiert hat, die internationale Krisenhilfe besser, schneller, effektiver und effizienter zu machen. Denn selbst der beste Wille verpufft wirkungslos oder wirkt sogar kontraproduktiv, wenn es viel Krise und wenig Management gibt. Gut gemanagt ist halb geholfen.

Das Sphere-Handbuch ist eine kiloschwere Leitlinie, praktisch ein Rezeptbuch, mit dem sich jede Krise sozusagen „vom Blatt“ meistern lässt. Damit die Helfer im Krisenfall nicht erst lange überlegen müssen, was zu machen ist, sondern lediglich die passenden Seiten aufzuschlagen brauchen. Auf den rund 450 Handbuch-Seiten steht alles zu allen relevanten Krisenthemen, zum Beispiel auch, was in welchen Mindestmengen wofür vorgehalten werden sollte. Beispielsweise für jeden Katastrophenhelfer 15 Liter Wasser täglich zum Trinken, zur Nahrungszubereitung und Körperpflege. Oder 3,5 qm pro Person in Notunterkünften.

Das Handbuch ist unter anderem nach Krisen gegliedert: Bei Erdbeben zum Beispiel ist der Bedarf an Medikamenten deutlich größer als bei Überschwemmungen – weil Erdbeben mehr Menschen verletzen. Wenigen Tagesschau-Zuschauern fällt das auf, doch es ist eigentlich erstaunlich, dass rund um den Globus binnen weniger Stunden nach Ausbruch einer Katastrophe bereits erste Hilfslieferungen im Krisengebiet eintreffen: Die Humanitarian Supply Chain funktioniert wie am Schnürchen. Wie?

Hilfsorganisationen unterhalten weltweit sogenannte Hubs in ihren Herkunftsländern. Das sind riesige zentrale Lager mit extrem hohen Beständen. Denn wenn die nächste Katastrophe zuschlägt, kann der Supply Manager der Hilfsorganisation nicht erst Bestellungen schreiben oder gar Ausschreibungen tätigen und tagelang auf Belieferung warten. „Just in time“ ist kein Modus der Krisenlogistik. Wenn die Krise zuschlägt, muss längst alles eingelagert sein, was gebraucht wird. Wobei gilt: Mehr ist besser! Diese Großlager verfügen auch über weite Flächen für die Kommissionierung der Hilfsgüter. Denn jede Krise benötigt eine andere Zusammenstellung der einzelnen Paletten und Sendungen. Meist liegen diese Hubs strategisch, zum Beispiel in der Nähe von internationalen Flughäfen.

Die Hubs versorgen einzelne Lager, die weltweit auf besonders krisenanfällige Länder verteilt sind. Von dort wiederum wird ausgeliefert an den eigentlichen Point of Entry: das letzte Lager, bevor es in eine Krisenregion geht. Ist es Ihnen aufgefallen? Die Struktur dieser leider in unzähligen Katastrophen bewährten Supply Chain ist zentralistisch: Das Hauptquartier der Hilfsorganisation entscheidet blitzschnell und der Hub beginnt praktisch ohne Zeitverzögerung (das Richtige) zu liefern. Das sind entscheidende Unterschiede zum massiven und im Sinne des Wortes lebensbedrohlichen Nachteil einer zeitraubenden und X-Ineffizienz produzierenden Verantwortungs- und Informationsdiffusion zwischen Bundes-, Landes-, kommunalen Behörden und einzelnen Hilfswerken in föderalen Staaten. Eine föderale Struktur bei der Katastrophenhilfe ist zutiefst demokratisch – maximal oder auch nur optimal hilfreich ist sie nicht. Schlimmer als die Klima-Krise ist die Krise der Katastrophenhilfe.

Die schwierigste Etappe bei der Katastrophenhilfe ist erfahrungsgemäß die Auslieferung auf der letzten Meile zu den Opfern der Katastrophe. Aus naheliegenden Gründen: Die Katastrophe hat Straßen zerstört und Wasserwege unpassierbar gemacht, Landebahnen sind beschädigt. Selbst die freiwilligen Helfer machen die Krisenlogistik schwierig: Man weiß nie, wie viele kommen. Während nach vielen Katastrophen helfende Hände fehlen, erlebten wir im Sommer hierzulande einen Helfertourismus, bei dem sich freiwillige und professionelle Helfer gelegentlich gegenseitig auf die Zehen traten.

Wenn wir Fernsehzuschauer dem öffentlichen Aufruf folgen und kräftig spenden für Hilfsmittel, Medikamente, Notunterkünfte und Kleidung, assoziieren wir automatisch, dass unsere Spende Hilfsmittel, Medikamente, Notunterkünfte und Kleidung finanziert. Das ist zum Großteil falsch. Denn 80 Prozent der Kosten einer durchschnittlichen Katastrophenhilfe fallen nicht für die eigentlichen Hilfsmittel an, sondern wie eben skizziert für die äußerst komplexe, schwierige und mit riesiger Kapitalbindung versehene Krisenlogistik. Nichts gegen die unübertroffene Hilfsbereitschaft der meisten Menschen. Doch: Je besser die Logistik, desto besser die Katastrophenhilfe.

Bei dieser Betrachtung wir schnell klar, warum die erste Aktion nach der Rettung unmittelbar Betroffener der Wiederaufbau der Infrastruktur ist: ohne Infrastruktur keine Logistik. Dass der Wiederaufbau asap erfolgen sollte, versteht sich von selbst. Und „as soon as possible“ ist bei Katastrophen meist beeindruckend schnell. Ein Tornado hat zum Beispiel den Tower des örtlichen Flughafens bis auf die Bodenplatte weggefegt? Dann bauen Hilfskräfte binnen weniger Stunde einen „Tower aus dem Container“ auf. Und das ist gut so.

Denn wer für unsere Zukunft weniger Katastrophen antizipiert, hat den Schuss noch nicht gehört. Allein wegen der Klima-Krise und ihren politischen und sozialen Sekundäreffekten werden Anzahl, Umfang, Ausmaß und Intensität von Katastrophen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht ab, sondern zunehmen. Immer mehr von dem, was Menschen „Heimat“ nennen, wird zu Krisengebieten werden. Helfen wird der fünfte Wirtschaftssektor werden. Dann wird die Krisenlogistik hoffentlich auch besser beforscht sein. Denn – kaum zu glauben – allein der Begriff „Krisenlogistik“ ist erst 2006 in einer Dissertation erstmalig aufgetaucht. Das Themenfeld ist wissenschaftlich betrachtet also „brandneu“ und benötigt dringend jede Menge Grundlagenforschung – und viel mehr kompetente und professionell ausgebildete Krisenmanagerinnen und Krisenmanager. Denn so ungewiss die Zukunft ist, in einem Punkt ist sie absolut sicher: Die nächste Katastrophe kommt bestimmt.

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