Die Mehl-Hamster

Für etliche Tage waren Regalflächen im Einzelhandel leer, wo bislang und praktisch ununterbrochen seit 70 Jahren immer das Mehl auslag. Der Grund: Ein Viertel der weltweit exportierten Weizenmenge liegen miteinander im Krieg. Russland trug zur weltweiten Exportmenge bislang 18 Prozent bei, die Ukraine 8 Prozent. Die Sanktionen stoppten die russischen Exporte, die Invasion die ukrainischen. Auf den Weizenfeldern herrscht Krieg.

Die Männer, die früher exportierten, liegen heute in Schützengräben. Selbst wenn demnächst Frieden wäre: Jetzt ist die Zeit der Aussaat, für die ebenfalls Arbeitskräfte fehlen, also fallen wohl auch große Teile der nächsten Ernte aus. Dabei war die letzte Ernte mit 33 Millionen Tonnen eine Rekordernte. 24 Tonnen davon gingen in den ukrainischen Export. Die Ukraine ernährt die Welt, vor allem die 3. Welt.

Wir beklagen uns, dass der Supermarkt vorübergehend keine Type 405 auf Lager hat, doch Brot und Nudeln gibt es immer noch genug. Mehr als genug, wenn man sieht, was Woche für Woche weggeworfen wird. Doch viele Länder hungern wirklich. Ägypten und Tunesien zum Beispiel bezogen ihren Weizen zum großen Teil aus Russland und der Ukraine. Dieser fehlt jetzt. Und das verursacht nicht nur Magenknurren, sondern auch Kopfschmerzen; vor allem den politischen Eliten.

Was viele nicht wissen: Der arabische Frühling 2011 startete als Hungerrevolte. Auch damals wurde Weizen knapp. Damals war der Grund eine Dürre in China – und die hungernden Massen gingen auf die Straße und stürzten Regierungen. Von den neun weltweit größten Weizen-Importeuren, alle im Nahen Osten, wurden sieben von Unruhen erschüttert. Wenn das Volk hungert, begehrt es gegen die Regierigen auf, wie Tucholsky sie nannte. So wichtig ist Brot für politische Stabilität, ganz abgesehen von der persönlichen Gesundheit. In Ägypten wurde der damalige Präsident Mubarak nach 30 Jahren aus dem Amt gejagt. Hatte er wirklich geglaubt, sein Volk nehme klaglos den Preisanstieg beim Brot hin – einen Preissprung von 40 Prozent? Kann das auch Kanzler Scholz passieren?

Wir importieren zwar Millionen Tonnen Lebensmittel. Doch beim Weizen sind wir autark. Mehr noch: Die EU ist nach Russland der zweitgrößte Weizen-Exporteur der Welt. Wir könnten uns mit Weizen also selbst ernähren – und andere Länder mit. Leider wissen das die Mehl-Hamster nicht, die jüngst die Regale panikartig leerkauften. Oder sie wissen nicht mehr, welcher Fake News sie glauben sollen. Die denken vielleicht wirklich, dass sie demnächst hungern müssen. Dabei wäre es hoch interessant zu erfahren, wieviel von dem jetzt weggehamsterten Mehl wirklich verbacken und vernudelt wird, bevor es in einigen Monaten die Mehlwürmer oder Motten frühstücken, weil die meisten modernen Haushalte überhaupt keine geeignet trockenen, kühlen und dunklen Lagerplätze mehr für eine sachgerechte Vorratshaltung haben. Unsere Probleme möchte ich haben!

Was aktuell tatsächlich ein Problem ist: Weizen ist im Vergleich zu 2018 ungefähr doppelt so teuer geworden, was einer Weizen-Inflation von 100 Prozent entspricht – Mubarak lässt grüßen. Viele Backwaren haben in den letzten Tagen mal schnell um 10 Prozent aufgeschlagen, obwohl das Mehl im Kastenkuchen wohl den geringsten Kostenanteil ausmacht. Dabei ist die Ukraine-Invasion nur einer von mehreren Kostentreibern: Schon im November hatten Russland und China einen Exportstopp für Düngemittel verhängt (aus welchen Gründen auch immer). Die Märkte preisen sowas natürlich ein.

Dabei ist ein Preis nicht nur das, was wir für ein Produkt bezahlen, sondern auch ein Indikator für Knappheit und das Fieberthermometer für die Angst an den Märkten. Angst treibt Preise. Demnach halten die Investmentbanker von JPMorgan Chase eine nochmalige Preissteigerung um 10 bis 20 Prozent für möglich. Das pushen manche Medien zur neuesten Katastrophenpanikmeldung hoch: substanzlos. Denn keiner, der solche Meldungen textet oder liest, wird hungern. Dafür jene Menschen, die alternativ shoppen: Den Tafelläden geht tatsächlich in diesen Tagen die Ware aus. Mehr Hungrige, mehr Arme, mehr Flüchtlinge – weniger zu beißen. Wie George Carlin sagte: „Wer die Welt für mehr als einen schlechten Gag hält, liegt daneben.“

Länder, die den Hunger fürchten, macht die Not erfinderisch. Tunesien zum Beispiel hat eben damit begonnen, Getreide aus Argentinien und Rumänien zu importieren. Das Land sucht Exporteure, die zuverlässiger sind als Regimes, die mal eben so über einen Landesnachbarn herfallen. Das ist Supply Chain Management in Zeiten des Krieges: Ein resilienter Supply Chain Manager hat immer eine brauchbare Second Source in der Hinterhand. Man weiß ja nie …

Währenddessen verlautbart Präsident Selenskyj, dass trotz Krieg die Weizenfelder auch weiter bestellt werden sollen. Worauf ein Witzbold im Netz textete: Sobald die ukrainischen Traktoren mit dem Abschleppen russischer Panzer fertig sind, fahren sie wieder raus aufs Feld.

Ein weiteres Problem: 40 Prozent des deutschen Bioethanols, das in Bio-Diesel und E10-Superbenzin steckt, wird aus ukrainischem Getreide gewonnen. Wenn das ausfällt, fehlt es nicht im Brotkasten, sondern im Tank. Benzin wird dann noch teurer – falls sich das jemand vorstellen kann. Doch die Realität sprengt spätestens seit Corona jegliche Vorstellung. Laut Deutscher Umwelthilfe DUH wird für die in Deutschland getankten Bio-Kraftstoffe im In- und Ausland eine Fläche etwa von der Größe Schleswig-Holsteins bepflanzt: Tank statt Teller. Bei unserem inländischen Exportüberschuss dürfte das kein Problem sein. Doch wenn in fremden Ländern Menschen hungern müssen, damit wir mit E10 die Luft nachhaltiger verpesten können, wird die soziale für die ökologische Nachhaltigkeit geopfert. Wer von den Leuten, die das Klima retten wollen, denkt darüber nach?

Viele Bauern hierzulande können auch den teuer gewordenen Diesel für den Trecker nicht mehr bezahlen – das treibt den Getreidepreis noch weiter in die Höhe. So hängt alles mit allem zusammen und wenn die Preisspirale einmal angefangen hat, sich zu drehen, gibt es für Jahre kein Halten mehr. Dabei gäbe es Bremskraft genug.

So wurde in Deutschland die Anbaufläche für Weizen stark reduziert allein dadurch, dass der Anbau von Mais für die Biogas-Produktion stärker gefördert wurde. Das könnte man zurücknehmen. Oder der Markt regelt das nach seinen eigenen Gesetzen: Findige Landwirte werden dieses Jahr verstärkt Weizen anbauen und die hohen Preiserwartungen ernten. Gut für die Bauern, gut für uns.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert