Hat sich’s gelohnt?

Wenn das so weitergeht, entwickeln wir uns noch zu einer richtigen Nation von Empirikern. In den letzten Jahren erlebten wir ja jede Menge Maßnahmen, von denen bis heute keiner weiß, was oder ob sie überhaupt etwas gebracht haben. Weil niemand sich die Mühe machte, die passenden Zahlen zu erheben. Empirie? Böhmisches Dorf (nichts gegen Böhmen). Beim 9-Euro-Ticket ist das anders: Analysen zuhauf!

Worauf wir braven Laien auch ohne Zahlenwerke gekommen sind, was aber die Studien-Zahlen belegen: Das Ticket hat die Nutzung von Zügen und Bahnen stark gesteigert. Passagiere und Personal würden mit Buzz Lightyear sagen: „Bis an die Grenze zum Kollaps – und darüber hinaus!“ Die Nutzungsexplosion fand dabei hauptsächlich auf welchen Strecken statt?

Auf einer Distanz zwischen 30 und 300 km. Hier war die Nutzung um sagenhafte 56 Prozent höher (als 2019). Das heißt: Mit dem Ticket wurde viel gereist, nicht nur gependelt. Der Tourismus profitierte und die Freizeit-Industrie. Nicht im selben Maß der Nahverkehr und hier insbesondere die Pendler. Obwohl die Preisreduktion gerade in den Metropolen extrem war. Normalerweise kostet ein Monatsticket in München rund 60 Euro. Weil das 9-Euro-Ticket drei Monate galt, hätte man also 153 Euro gespart. Wenn man vom Auto auf die S-Bahn umgestiegen wäre. Ist man umgestiegen?

Anders gefragt: Hat das Ticket seinen Zweck erreicht? Nämlich dass Menschen vom Auto auf die Bahn umsteigen? So viele Studien zum Ticket, so viele Zahlen – aber keine belastbar. Das ist der Fluch der Empirie. Oder wie ein konsternierter Vorstand einmal sagte: „Sind die Zahlen exakt, sind sie irrelevant, und sind sie relevant, dann ungenau!“ Wenn sich schon aus den reinen Nutzungszahlen nichts Schlüssiges ergibt, kann man wenigstens die Leute fragen. Meinung statt Fakten. Das hat zum Beispiel der ADAC gemacht.

Er fragte Autofahrer, ob sie umgestiegen seien. Das sind sie nicht. Sie nutzten zwar das 9-Euro-Ticket – ließen ihr Auto aber nicht stehen. Sie fuhren damit wie immer. Aber sie machten zusätzliche Fahrten mit der Bahn ins Blaue, reisten, schauten sich die Gegend an. Das 9-Euro-Ticket war also ein Touri-Ticket, ein Freizeit-Ticket, ein Reise-Ticket. Ein Ticket, das massenhaft zusätzlich Personenverkehr verursachte. Wollten wir das?

Oder ging es nicht irgendwann mal um die Rettung des Klimas? Und hätte man sich den Touri-Effekt nicht schon ex ante denken können? Das hat man. Jede Menge Leute taten das. Sie kamen in den Leitmedien bloß nicht vor. Wohin leiten uns denn die?

Und noch eine Frage erhebt sich, über die kaum diskutiert wird: Kann ein Billig-Ticket überhaupt das Klima retten? Wagen wir eine steile und wissenschaftlich korrekt formulierte These: Pustekuchen! Das kann kein Ticket der Welt. Denken wir uns das Schlaraffen-Szenario: Sämtlicher Schienen- und Busverkehr in Deutschland ist – ceteris paribus – ab heute 8 Uhr kostenlos und gratis! Werden deshalb die zehntausenden Pendler, die täglich mit dem Auto nach München reinpendeln, auf Busse und Bahnen umsteigen? Sicher nicht, weil die Bahnen jetzt schon zu Stoßzeiten chaotisch überlastet sind (daher die geplante zweite Stammstrecke).

Und nicht nur das Schienennetz, auch das Personal ist völlig überlastet. Manche Betreiber streichen Verbindungen, weil ihnen die Zuglenker fehlen. Selbst wenn die Regierung uns noch Geld für ein Ticket bezahlen würde: Davon wird nicht eine einzige zusätzliche Fachkraft eingestellt.

Die Bundesregierung schätzt die Kosten für das Ticket auf 2,5 Milliarden Euro. Sehr viel teurer, schätzungsweise um den Faktor 100 teurer, wäre der Ausbau der Bahnen auf eine Art und Weise, dass selbst in ländlichen Gebieten die Menschen das Auto stehen ließen, weil die Bahn einfach schneller, billiger und klimafreundlicher ist. Wir leben, wie Jordan Peterson sagen würde, in einer Histrionik-Epidemie: Gemacht wird, was Aufsehen erregt und nicht unbedingt, was effektiv und effizient ist. Oder wie Prince sang: Sign of the times. Nichtsdestotrotz wird munter die Frage diskutiert: Wie machen wir weiter?

Welche von 500 deutschen Mittelstädten bekommt einen so gut ausgebauten ÖPNV, dass die guten Bürgerinnen und Bürger ihre PKW massenhaft stehen lassen? Das wissen wir nicht, weil das nicht diskutiert wird. Diskutiert wird: Soll das 9-Euro-Ticket 2.0 nun 49 oder 69 Euro kosten? Warum wird das diskutiert? Eine Antwort darauf finden wohl nur Zyniker. Sie könnte lauten: So viele Milliarden ein Ticket-Marketing-Gag auch kosten mag – immer noch billiger als der Ausbau des Nahverkehrs. Immer noch billiger als die Rettung des Klimas. Immer noch billiger als eine lebenswerte Zukunft.

Blick in die Zukunft: „Mama, schau dir mal die Steppe an, in der wir zwischen Landsberg und Pinneberg leben müssen. Warum habt ihr damals das Klima nicht gerettet?“ – „Wir hatten das 9-Euro-Ticket!“ Wenn man sich das so ausmalt, fragt man sich: Wollen wir nicht oder können wir nicht? Wir fordern zwar alle ständig, dass das Klima gerettet werden muss – aber tun wir’s? Und warum nicht? Auch dazu gibt es keine Empirie. Doktoranden der Nation: Rafft euch auf!

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