Ausverkauf!

Holz ist alle! Weil wegen Corona seit einem Jahr so viele Leute renovieren oder neu bauen und vor allem energetisch bauen, also auch mit viel Holz, stehen viele Baustellen still. Das nötige Holz fehlt. Und nicht nur wegen der sprunghaft gestiegenen Nachfrage, sondern auch wegen höherer Gewalt: In Kalifornien gab es riesige Waldbrände, die auch Bäume vernichteten, die zu Bauholz hätten verarbeitet werden sollen. Deshalb fehlt Holz allenthalben.

Allenthalben?

Eben nicht. Denn die USA und China leiden offenbar keinen oder geringeren Mangel, weil sie aktuell den Weltmarkt leerkaufen. Deshalb nun selber in den USA oder China einzukaufen, wäre jedoch insbesondere fürs energetische Bauen widersinnig: Wenn das Holz fürs Haus aus Übersee kommt, ist sein CO2-Fußabdruck bereits viel zu groß, um noch als klimafreundlich zu gelten. Doch Holz ist nicht der einzige Rohstoff, der in diesen Tagen knapp wird.

Auch Lithium und seltene Erden werden knapp, sogar Stahl – ebenfalls wegen des Baubooms. Viele High-Tech-Rohstoffe und -Produkte sind ausverkauft, wie zum Beispiel Chips, deren Mangel bereits die Bänder der deutschen Automobilindustrie vorübergehend stilllegte. Und wann immer hierzulande über Versorgungsengpässe und Rohstoff-Knappheit lamentiert wird, fällt auf, dass in China die Lager gut gefüllt sind und die Versorgung läuft. Warum?

Weil China ein strategisches Supply Chain Management hat, das den Namen verdient. Die Chinesen haben schon lange damit begonnen, in der Versorgung strategisch zu denken. Sie haben vor Jahren bereits Anteile zum Beispiel an Bergbaufirmen in Chile und im Kongo gekauft. Für viele Milliarden haben sie sich Teile der Rohstoff-Branche gesichert. Man könnte das vertikale Integration nennen. Oder weitsichtig. Zukunftskompetent. Jedenfalls das Gegenteil von Outsourcing, „Konzentration aufs Kerngeschäft“ oder auch Lean Production. Wie sich jetzt herausstellt, sind viele deutsche Unternehmen nach Jahren des Lean Management nicht „Lean & Mean“, wie der inoffizielle Slogan der Bewegung lautete, sondern ausgemergelt und kraftlos, vom unstillbaren Rohstoffhunger geschwächt. Darunter leiden nicht nur die Produktion und die Versorgung der Bevölkerung, sondern auch die Innovationskraft Europas, wodurch dieser Erdteil noch weiter hinter dem chinesischen Konkurrenten zurückbleibt. Dabei warnen westliche Wissenschaftler seit Jahrzehnten vor dem Ausverkauf der Erde und dem Rohstoffmangel. Warum stieß das bei uns, aber nicht in China auf taube Ohren?

Das chinesische politisch-ökonomische System hat seine bekannten und von den Leitmedien regelmäßig gegeißelten Schattenseiten. Doch was die Chinesen besser machen und wovon wir lernen könnten, kommt nicht annähernd so oft und so schlagzeilenträchtig in den westlichen Medien vor. Dabei zeigt die aktuelle Ungleichverteilung des Rohstoffmangels, dass die Chinesen es und was die Chinesen besser machen. Sie denken nicht nur strategisch, sie kaufen auch strategisch ein.

Die Chinesen haben und verfolgen Fünf- und Zehnjahrespläne, während die westliche Politik schwerpunktmäßig nicht über die aktuelle Wahlperiode und viele Westkonzerne nicht wesentlich über die Quartals-, höchstens die Jahresbilanz hinausdenken. Die Chinesen gaben vor Jahren bereits Milliarden für Bergbau-Beteiligungen in fremden Ländern aus. Hätte das damals ein Westkonzern versucht, hätten ihn die ebenfalls kurzsichtigen und wenig zukunftsfähigen Aktieninhaber massiv abgestraft. Doch der Westen ist unbelehrbar. Kaum sehen wir, dass und was die Chinesen besser machen, kommt sofort der Einwand: Freiheits- und Menschenrechte!

Als ob man sich entweder für Freiheit oder Zukunft entscheiden könnte. Tatsächlich besteht im Systemvergleich kein Entweder-Oder, sondern ein Trade-off zwischen beiden: Wir bezahlen unsere nahezu grenzenlose Freiheit mit großen Teilen unserer Zukunft. Was ist unsere Freiheit wert, wenn wir keine Chips, keine seltenen Erden und kein Holz mehr heranschaffen können?

Die Frage ist nicht: Welches System wollen wir? Niemand kann oder will hierzulande die Demokratie abschaffen. Die Frage ist vielmehr: Wo auf dem Spektrum zwischen absoluter Freiheit und absoluter Zukunftsfähigkeit liegt – für uns – das Optimum? Derzeit leben, wirtschaften, regieren und beschaffen wir ganz sicher nicht optimal. Wir genießen ungeheure Freiheiten, verspielen aber unsere Zukunft auf dem Weltmarkt. Das wissen inzwischen auch alle, die auf den Weltmärkten einkaufen oder die gerade ein Häusle bauen.

Es liegt nicht an der Fehlerdiagnose. Fehlerdiagnose können wir; vielleicht selbstkritischer als andere Nationen. Doch wir haben kein Diagnose-, sondern ein Umsetzungsdefizit: Wie kommen wir jemals wieder raus aus der Rohstoff-Sackgasse? Wie können wir unsere Politiker, Minister und Regierungen incentivieren, umfassend und strategisch über die aktuelle Wahlperiode hinaus zu denken, ohne die Demokratie aufzugeben? Und wie schaffen es unsere Unternehmen, über die nächste Bilanz hinauszudenken, ohne den Kapitalismus abzuschaffen? Das sind interessante Fragen – und das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Denn wenn wir sie nicht schnell und gut beantworten, werden wir noch zu Lebzeiten Zeugen des Ausverkaufs der Nation.