In Manhattan war neulich der Strom weg. Die Lichter gingen aus, Zehntausende New Yorker saßen oder standen im Dunkeln, Computer stürzten ab, Fahrstühle blieben stecken, U-Bahnen blieben stehen, der Stadtteil war mehr oder weniger lahmgelegt. Kann sowas auch bei uns passieren?
Die Berufsbeschwichtiger in Politik und Verwaltung wiegeln regel- und gewohnheitsmäßig ab, doch die schlichte Antwort lautet: Ja. Einmal abgesehen von unvorhersehbaren technischen Defekten (in Manhattan war ein Transformator durchgebrannt) standen wir in Deutschland allein im Juni dreimal kurz vor einem Netzabsturz: Beinahe-Blackout. Die Betreiber des deutschen Netzes mussten dreimal kurzfristig eine starke Unterspeisung des Netzes feststellen: überraschend und deutlich mehr Nachfrage als Stromangebot. Der Blackout konnte jeweils nur deshalb abgewendet werden, weil die Engpässe mit Hilfe der Nachbarländer überbrückt werden konnten: Frankreich, Österreich und die Schweiz speisten Strom ins deutsche Netz ein, um die Nachfragespitzen tragen zu helfen. Wenn diese Länder selbst ein überraschendes Nachfrage-Hoch erlebt und nicht geholfen hätten: Blackout. Warum das? Haben wir selber keine Stromreserven?
Haben wir, natürlich. Grundsätzlich stellen Pumpspeicherkraftwerke, große Batterieblöcke und virtuelle Kraftwerke (Windenergie und dezentrale private Photovoltaik) eine Notreserve. Außerdem können die Betreiber kurzfristig Reserve-Kraftwerke (Kohle, Gas) anfahren. Doch an Risikotagen könnten diese eines Tages auch nicht mehr ausreichen. Droht dann der Blackout?
Streng genommen: Nein. Denn bevor man das Netz kollabieren lässt, schaltet man industriellen Großverbrauchern, die zum Beispiel fürs Alu- und Stahlschmelzen sehr viel Elektrizität brauchen, lieber schnell den Strom ab (gegen Entschädigung). Das ist praktisch eine Notabschaltung – bevor das ganze Netz zusammenbricht. Rein rechnerisch ist das Blackout-Risiko in jenen Ländern der Welt höher, die besonders klimabewusst sind. Denn mit jedem Kohle-, Gas- oder Kernkraftwerk, das abgeschaltet wird, steht weniger Regel-Energie zur Verfügung. Das heißt nicht, dass Versorgungssicherheit vor Klimaschutz geht. Es heißt lediglich, dass wir beim Schutz des Klimas vielleicht etwas mehr Umsicht walten lassen sollten als bislang nötig und geboten war. Ein superheißer Sommer, ein Rekordverkauf von Beistell-Klimageräten und Ventilatoren, ein unvorhergesehener Engpass bei unseren Stromnachbarn – und wir sitzen im Dunkeln.
Und es ist dann ja nicht nur dunkel, sondern auch chaotisch: Alle Ampeln fallen aus. Alle Bankautomaten. Die Ladenkassen in den Lebensmittelgeschäften funktionieren nicht mehr: Wir können nichts mehr einkaufen (möglicherweise verhindert das dann Hamsterkäufe). Dauert der Stromausfall länger, müssen auch die Tiefkühltruhen der Läden geräumt und die Ware entsorgt werden: Alles verdorben, Tausende Tonnen. Nur was ein Notstromaggregat hat, hat noch Strom. Weshalb die sogenannten Prepper (die sich auf den äußersten Notfall vorbereiten, Englisch: to be prepared – vorbereitet sein) sich auch hier in Deutschland vorsorglich mit solchen Aggregaten ausstatten.
Literarisch gibt es ein ganzes belletristisches Genre an Blackout-Büchern. Marc Elsbergs Roman „Blackout – Morgen ist es zu spät!“ zum Beispiel, in dem er minutiös beschreibt, wie die ersten zwei Wochen nach einem großflächigen Stromausfall in Europa aussähen, verkaufte über eine Million Exemplare. Auch die Fachliteratur ist mit dem Thema bestens versorgt, beispielsweise mit einer Studie (2010) des Büros für Technikfolgenabschätzung des deutschen Bundestages; Titel: „Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen Ausfalls der Stromversorgung“. Eine Menge Leute scheinen sich mit dem Thema zu beschäftigen, während Otto Normalverbraucher oft noch nicht einmal eine funktionierende Taschenlampe für den Ernstfall in der Schublade hat – gleich neben den Keksen der Eisernen Ration.
So nötig wir die ganzen CO2-Schleudern abschalten müssen, um das Klima vielleicht doch noch irgendwie (und irgendwann) zu retten: Wind- und Solarenergie stabilisieren mit ihrer wetterbedingt schwankenden Stromproduktion das Netz nicht, eher im Gegenteil. Kommt es deshalb zu Engpässen, müssen stillgelegte Gas- und Kohlekraftwerke sehr kurzfristig wieder hochgefahren werden; der Fachausdruck dafür lautet „Redispatch“. 2014 wurden 5.200 Redispatches nötig; 2017 waren es bereits viermal so viel – mehr als 20.000 Mal. Meist ohne dass die stromversorgte Öffentlichkeit das mitbekam. Warum auch? Für die meisten kommt der Strom eben aus der Steckdose – und an der Steckdose endet dann auch das Interesse dafür. Was nachlässig ist.
Denn Stromausfälle mit historischer Größenordnung sind nicht so selten wie man denkt. Seit 1965 war der Strom 16 Mal in historischem Ausmaß weg. Von diesen 16 Blackouts fielen 14 ins 21. Jahrhundert: Das Risiko nimmt nicht ab, sondern zu. Erst Mitte Juni erwischte es das südamerikanische Verbundnetz. In Argentinien und Uruguay waren 47 Millionen Menschen davon betroffen.
Natürlich müssen die Klimakiller-Kraftwerke vom Netz! So früh wie möglich. Doch gleichzeitig sollte mit Hochdruck der europäische Netzverbund ausgebaut werden, damit auftretende Schwankungen in einzelnen Ländern durch einen weiträumigen Stromtransport ausgeglichen werden können – ohne dass es zum Blackout kommt. Und wenn doch: Ein paar Kerzen im Küchenschrank und ein paar Brettspiele in der Kommode helfen über die streaminglose Zeit der Dunkelheit hinweg.
Sehr geehrte Frau Professorin Hartmann,
mit großem Interesse lese ich grade Ihr Buch „Wie viele Sklaven halten Sie?“ und bin darüber auch auf Ihren Blog aufmerksam geworden. Tolles Buch!
Bei Ihrem Blogbeitrag wundere ich mich, dass Sie sich so auf die erneuerbaren Energien einschießen. Schließlich sind die Gründe der Frequenzschwankungen noch gar nicht zu Ende ermittelt. Vieles deutet jedoch daraufhin, dass nicht die Erneuerbaren Schuld an den konkreten Situationen sind, sondern der Marktmechanismus und die Stromhändler die ihn versuchen auszunutzen. U.a. diese Pressemitteilung der Bundesnetzagentur zielt in Richtung Stromhändler und nicht in Richtrung Erneuerbare: https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/20190717_Bilanzkreistreue.html Ganz allgemein zeigen recht junge Forschungsergebnisse, dass der Stromhandel den uns der freie Markt ermöglicht, in gleichem Maße Frequenzschwankungen ins Netz bringt wie die Erneuerbaren Energien. http://www.ds.mpg.de/3175148/180108-pm-netzwerke
Sehr geehrter Christian!
Da machen Sie dankenswerterweise ein ganz großes Thema auf. Selbstverständlich stehen nicht nur die Erneuerbaren im Verdacht, wenn die Netze wackeln. Es ist ärgerlich und besorgniserregend, wenn Stromhändler unsere Versorgungssicherheit im Casino verspielen. Danke, dass Sie – sogar mit fundiertem Link – der Diskussion einen zusätzlichen substanziellen Aspekt beifügen. Wache Leser braucht das Land (und der Blog).
Schönen Dank dafür und bitte weiter so, Evi Hartmann