Lass es krachen!

„Neulich im Büro“, erzählt ein Bekannter, Ingenieur und Projektleiter „hat es wieder gekracht. Ein Teamkollege meinte, dass wir Arbeitspaket 47 dringend nacharbeiten müssen, so könne man das unmöglich dem Kunden vorsetzen.“ Worauf die Kollegin, die das Arbeitspaket bearbeitet hatte, wie von der Tarantel gestochen hochfuhr: „Was soll das heißen? Was soll daran unmöglich sein? Du hast sie ja nicht mehr alle!“ Und schon flogen die Fetzen. Fast so wie im Internet, gegen dessen unterirdischen Umgangston ja schon Hate-Speech-Gesetze erlassen werden. Was fehlt dem Internet, den sozialen Medien, der Belegschaft, der Menschheit? Worauf tippen Sie? In einem Wort?

Streitkultur. Momentan haben wir viel Streit und wenig Kultur. Was einigermaßenrätselhaft ist. Denn dass unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Charaktere, Erfahrungen und Lebensgeschichten und damit unterschiedliche Interessen, Standpunkte und Meinungen haben, ist eigentlich total banal. Aber entweder unterdrücken wir diese Diversität auf Teufel komm raus um des lieben Friedens willen und vertuschen harmoniesüchtig jeden aufkeimenden Konflikt – bis uns der Teppich um die Ohren fliegt, unter den wir den Streit gekehrt haben. Oder wir giften uns an wie die Nattern und Trolle in den unsozialen Medien. Nicht ganz unsere Schuld.

Denn obwohl manche von uns 13 Jahre und länger in die Schule gingen und danach noch Unsummen der betrieblichen Weiterbildung konsumieren: Streitkultur hat keiner von uns gelernt. Offensichtlich und zumindest nicht so, dass eine kritische Menge von Menschen sie praktizieren könnte oder wollte. Bei manchen Themen und Triggern können die meisten von uns nicht sachlich bleiben. Die meisten haben ja schon ein Problem, zu erkennen, wann es persönlich wird: „Wieso soll ‚Schlamperei‘ persönlich sein? Das ist doch eine Granatenschlamperei!“ Mag sein – aber es ist auch persönlich und verletzend.

Irgendwie geht es ständig ums Rechthaben, Bestimmen, Widerreden, Kritteln, Meckern, Zicken, Profilieren, Wichtigmachen und Besserwissen – anstatt um einen Austausch, bei dem man Standpunkte vorbringt und sie mit Argumenten untermauert, um reihum verschiedene Perspektiven aufzuzeigen. In manchen Teams, Abteilungen, Bereichen, Unternehmen und Familien ist das bereits so ausgeartet, ist so viel Schaden angerichtet worden, dass sich keiner mehr traut, den Mund aufzumachen.

Man diskutiert nicht mehr. Man folgt stumm und ergeben der Ansage des Vorgesetzten oder Meinungsführers und ermahnt sich gegenseitig: „Sag bloß nichts! Kommt ja doch nichts dabei raus – außer Streit.“ Dann herrscht Pseudo-Harmonie, um deren Preis so viele diverse Meinungen verschwiegen werden, bis totgeschwiegene Fehler auftauchen oder Risiken virulent werden oder der Staatsanwalt anklopft. Anstatt dass man vorher mal durchdiskutiert, ob zum Beispiel ein Defeat Device wirklich eine so gute Idee ist. Ohne Streitkultur ist auch bald mit jeder anderen Kultur Schluss. Und das Ende ist meist nicht lustig. Es geht so vieles und so viel Gutes verloren, wenn wir den Mund nicht aufmachen, weil wir nie gelernt, im Sinne von: trainiert, haben, wie man sich zivilisiert austauscht. Dabei verlangt eine zivilisierte Streitkultur kein Zusatzstudium und ist auch keine Hirnchirurgie. Eine Faktoranalyse über die einschlägigen Ratgeber ergibt stets dieselben tragenden Elemente eines gereiften Diskurses; der Prägnanz halber als einfach zu merkende Imperative formuliert:

  1. Bleib sachlich! Niemals persönlich werden. Kleiner Tipp: Wertungen sind immer persönlich. Also nicht: „Das ist eine dumme Idee!“ Denn das fasst der Empfänger – zu Recht – auf als: „Du bist dumm!“ Wertungen gehen immer gegen die Person.
  2. Nie persönlich nehmen! Wenn das Gegenüber sich nicht beherrschen kann und wertend oder persönlich wird: Niemals den Köder schlucken! Das Einzige, was dabei herauskommt, ist Eskalation. Und Eskalation hat keine Gewinner, nur Verlierer. Stattdessen das Sachliche hinter dem Persönlichen heraushören: Was er/sie sagt, ist indiskutabel, da persönlich – doch was sagt er/sie versteckt im Persönlichen denn zur Sache?
  3. Niemals reflexiv reagieren! Wer spontan und reflexiv reagiert, reflektiert nicht. Stattdessen Muster-Unterbrecher nutzen: Tief ausatmen, auf drei (auf zehn) zählen oder die 8er-Reihe in Gedanken aufsagen – dann erst antworten. Dann ist nämlich der Affekt raus aus der Antwort.
  4. Immer erst zuhören! Auch wenn es super schwerfällt. Nicht ins Wort fallen. Das ist a) verletzend und b) verführt zu saudummen, affektiven, spontanen Äußerungen, die man hinterher immer bereut und die einen aussehen lassen wie den letzten Neurotiker.
  5. Jede Meinung gelten lassen! Keine a priori ausschließen. Jede Meinung ist erst einmal eine gute Meinung (die Brainstorming-Regel). Wer Meinungen abwertet, wertet Menschen ab. Das heißt nicht, dass man sagen muss: „Du hast Recht!“ – denn oft ist das sachlich nicht der Fall. Aber man kann immer sagen: „Das ist ein guter Vorschlag! Danke!“ Vielen erfahrenen RechthaberInnen fällt das spontan schwer. Kein Ding. Dann übt man das halt vorher, bis einem dabei kein Zacken mehr aus dem Krönchen fällt.
  6. Keine Vorwürfe, Verallgemeinerungen („Immer!“, „Ständig!“, „Nie!“) und Abwertungen. Das Einzige, was man damit provoziert, ist Trotz, Reaktanz (Widerstand) und Eskalation oder Flucht in den Untergrund.
  7. Versuche, Standpunkte zu verstehen! Also nicht: „Warum sagt er/sie denn sowas Blödes?“, sondern: „Wozu sagt er/sie das? Was möchte er/sie mir damit sagen, damit erreichen?“
  8. Belege eigene Aussagen mit Begründungen! „Das funktioniert doch nicht!“ ist wertend und unbewiesen. „Das könnte Probleme bereiten, weil die XY-Technik bei dieser Anwendung laut unserem Testlabor eine Fehlerquote von 65 Prozent hat.“ Das ist sachlich.
  9. Auch wenn Sie total von ihrer Meinung überzeugt sind: Andere können auch mal Recht haben. Was wollen Sie? Um jeden Preis Recht haben? Oder in der Sache vorwärtskommen?
  10. Respektiere dein Gegenüber! Das ist die Generalklausel, unter der sich sämtliche Tipps zusammenfassen lassen. Wer den anderen respektiert, auch wenn das Gegenüber sich ungeschickt ausdrückt, zettelt keinen Streit an, wertet nicht ab und wird nicht unsachlich.
  11. Führen Sie Ihren Affektdruck woanders ab! Gerade im Internet, in Meetings und Familien werden wir ja deshalb ausfällig, weil wird geladen sind und Affektausgleich, ein Ventil, ein Opfer brauchen. Kneten Sie stattdessen den Stressball, hacken Sie Holz, ballern Sie einen Ego-Shooter oder legen Sie eine 10-Sekunden-Spontanmeditation der Achtsamkeit und Akzeptanz ein. Alles, bloß keine Triebabfuhr am Gegenüber!

Eine schöne Checkliste, die in einigen Büros und Sitzungsräumen auch schon an der Wand hängt. Im Sinne eines Self-Checks: Höre ich mir selber zu? Was rede ich denn wieder?

Interessant ist auch, wenn Menschen nach dem idealen Arbeitsplatz oder dem idealen Team gefragt werden. Es werden so viele Dinge genannt! „Eine gute Streitkultur“ ist so gut wie nie darunter. Alle wünschen sich, dass es im Team (in der Familie, in der Ehe/Beziehung, im Verein, im Meeting …) auf Anhieb klappt und sich wie durch Zauberhand die ungetrübte Harmonie einstellt. Echt jetzt? Mit Abitur und Studium denkt man noch sowas? Wow. Streitkultur ist eine Fähigkeit wie ein gut durchgezogener Tennis-Überkopf-Volley. Ich habe noch nie gehört, dass sich ein Tennis-Überkopf-Volley „wie durch Zauberhand“ eingestellt hätte. Nur Übung macht den Meister. Üben wir.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert