Spreu vom Weizen

Ein hartes Motto? Ich habe es nicht erfunden. Aber: Ich beobachte es derzeit vermehrt. Es ist nicht wirklich politisch korrekt, darüber zu sprechen – deshalb reden wir darüber: Sollen wir es lieber unter den Teppich kehren?

Das wäre für die sprichwörtliche Spreu dreifach schlimm: Erst wird sie aussortiert, dann ignoriert und dadurch auch noch stigmatisiert. Also lasst uns drüber reden: Die aktuelle Krise, jede Krise an sich trennt die Spreu vom Weizen.

Viele Unternehmen, die vor der Krise am Rande des Ruins standen, melden aktuell Insolvenz an. Modeunternehmen und Kleider-Ketten sind betroffen, auch Gastronomie-Betriebe und -Ketten. Viele geben der Krise die alleinige Schuld. Andere sind so ehrlich wie die insolvente Gastwirtin, die offen und ehrlich sagt: „Unser Konzept hat sich längst überholt, wir haben in den letzten Jahren viel zu wenig unternommen, um neue Gäste zu gewinnen – die Krise war der Auslöser, nicht die Ursache.“ Die Krise drischt den Weizen nicht – sie trennt ihn lediglich von der Spreu. Das machen Krisen. Das ist hart für die Betroffenen. Das Leben und das Business sind kein Ponyhof. Brauchten wir erst eine Krise, um uns wieder daran zu erinnern?

Nicht nur Betriebe werden erbarmungslos aussortiert. Auch in vielen Unternehmen selbst hat das große Sieben begonnen. Ein Bereichsleiter in einem großen deutschen Unternehmen sagt: „Wir haben leider auch viele Mitarbeiter, die nicht ganz so toll arbeiten, wie sie von sich selbst annehmen. Wir haben in der Hochkonjunktur beide Augen zugedrückt – das können wir uns jetzt nicht mehr leisten. Ich muss ihnen jetzt kündigen.“

Viele Konzerne haben Home Office in großem Stil verschrieben und plötzlich merken einige Vorgesetzte: „Ob Herr A und Frau B hier sind oder nicht – ich merke keinen Unterschied.“ Und sie trennen Spreu von Weizen. Das ist in kleinen Betrieben nicht anders. Eine Laborleiterin erzählt: „Wir haben viele Mitarbeiter ins Home Office geschickt, um Laborberichte zu schreiben – und plötzlich können wir zwei von ihnen zwei Tage nicht erreichen: Die haben das Firmen-Handy hier im Labor vergessen! Und das war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Wer braucht solche Leute?“ Spreu vom Weizen. Die Krise wendet dieses harte Prinzip mit einer Erbarmungslosigkeit epischen Ausmaßes an. In diesem Sinne: Wer zart besaitet ist, bitte den nächsten Absatz überspringen.

Da erzählt mir doch tatsächlich eine Pflegekraft mit 30 Dienstjahren auf dem Buckel, die in einem Seniorenheim arbeitet, in dem Corona übel zuschlug: „Das klingt jetzt brutal – aber glauben Sie mir: Wenn fast jeden Tag ein alter Mensch mit Corona stirbt, Tag für Tag, wie im Krieg, ist das brutal. Ich glaube: Corona macht, dass Alte und Kranke in großem Stil um die Ecke gebracht werden.“ Wenn jemand, die seit Wochen quasi 24h-Dienst schiebt, sowas sagt – da wagst du nicht zu widersprechen, Political Correctness hin oder her.

Folgen wir dem Prinzip in die weniger brutale Privatsphäre: Freundeskreis? Da gibt es welche, mit denen du fast täglich und gut telefonierst, whatsappst oder simst und welche, die sich konsequent nicht mehr melden oder wenn, dir ohne Luft zu holen die Ohren volljammern – als ob es dir als Einzigem/r goldig ginge! Will man sowas hören? Zur Spreu. Social Distancing der anderen Art. Hätte man im Grunde längst machen müssen. Die Krise ist lediglich der Anlass.

Oder, um beim Thema zu bleiben: Jene, die munter anrufen und floskeln: „Und? Bei euch alles okay? Alle noch gesund? Alle gut drauf?“ Was zum Kuckuck? „Okay“? „Gut drauf“? Wenn er oder sie sich auch nur für fünf Cent darüber Gedanken machen würde, wie sich ein normaler Mensch in einer abnormalen Krise fühlt, würde er oder sie keine solchen hohlen, empathielosen Phrasen dreschen. So hohl wie Spreu, also ab dafür.

Oder: Charakter. Wir bestellen abends jetzt öfter was Leckeres zum Abholen bei jenem Restaurant, in dem wir vor der Krise gut gegessen haben. Nicht jeden Abend steht uns der Sinn nach einem kompletten Menü, aber: Wir wollen nicht, dass der Wirt krisenbedingt die Segel streichen muss. Wir wollen, dass er seinen Koch weiter bezahlen kann. Andere bestellen nicht mal mehr den Pizzaboten: „Ich könnte angesteckt werden!“ Über die Pizzaschachtel? Was ist das denn für ein Viertelwissen, gepaart mit der aparten Einstellung: Me, me, me. Oder, um es neutral zu formulieren: null krisenfest. Gewogen und für zu leicht befunden.

Damit hier keine Trolle auf den Plan treten: Die Krise ist eine Katastrophe. Aber wie Watzlawick meinte: Jedes Schlechte hat sein Gutes. Wir lernen, wieder besser und tiefer zu reflektieren, die echten Freunde von den falschen zu trennen, das wirklich Wichtige vom bloß Dringenden. Wir lassen uns nicht mehr so heftig von rein Nebensächlichem vom Sinn des Lebens abhalten. Ich hoffe, das hält sich möglichst lange nach der Krise. Viele Eltern sagen mir: „Wir hatten nie einen größeren Zusammenhalt in der Familie.“ Andere Familien brechen auseinander; Stichwort „häusliche Gewalt“, die unter quarantäne-ähnlichen Zuständen apokalyptisch ansteigt. Wenn man sich 24/7 ohne Pufferzone auf der Pelle sitzt, geht man sich schneller an dieselbe. Dichtestress heißt das in der wissenschaftlich korrekten terminologischen Untertreibung.

Auch spirituell: Spreu vom Weizen. Was brauchen wir wirklich für ein erfülltes Leben? Zwei Packungen Klopapier im Hamsterschrank? Echt jetzt? Das macht ein erfülltes Leben aus? Soll das mal im Nachruf stehen? Oder gibt es eventuell noch etwas Bedeutsameres in einem Menschenleben? Wie haben sich Ihre Lebensziele in den letzten Wochen verändert? „Eigentlich kein bisschen“ meinte jüngst einer. Für ihn ist der Worst Case eingetreten: Kein geistiges Wachstum feststellbar, keine charakterliche Reifung. Fazit: Die Krise war umsonst. Nix dazugelernt. Was muss erst passieren, dass solche auf den Trichter kommen? Invasion vom Mars?

 

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