Sind wir denn blind?

Fahren Sie Rad? Wer nicht! Und nun die Gretchen-Frage: Tragen Sie dabei einen Helm? Wenn nicht: Sie sind in guter Gesellschaft. 83 Prozent aller deutschen Radler tragen keinen Helm (laut Unfallforschung der Versicherer, 2013). Wer wochenends in der Natur unterwegs ist und die vielen behelmten Mountain-Biker beobachtet, wird diese hohe Quote kaum nachvollziehen können. Doch die behelmten Bike-Enthusiasten sind zahlenmäßig kein Vergleich zum viel größeren Heer der Radfahrer, die in den Innenstädten deutscher Großstädte „oben ohne“ unterwegs sind.

83% also sind ohne Helm mit dem Rad unterwegs. Dabei beträgt das Risiko eines Radunfalls über ein ganzes Radler-Leben hinweg 1:20, das heißt 5%. Auf der anderen Seite spielen 40% der Deutschen Lotto, obwohl hier die Wahrscheinlichkeit eines Gewinns im ganzen Leben bei 1:34.000 seht, das sind 0,003%. Und selbst diese weniger als geringe Gewinnaussicht erzielt man nur dann, wenn man zweimal die Woche Lotto spielt, ein ganzes Leben lang. Da stimmt doch was nicht!

Wir unterschätzen krass das Unfallrisiko beim Radeln und überschätzen noch viel heftiger die Gewinnchancen beim Lotto. Millionen Deutsche sind gefährlich unbehelmt unterwegs und Millionen Deutsche verspielen ihr Geld. Sind wir denn alle zahlenblind?

Das könnte man so sagen – und das ist kein Vorwurf. Denn an unseren Schulen lernen wir zwar Wahrscheinlichkeitsrechnung, doch wie so vieles relativ transferfrei. Wir können danach zwei Wahrscheinlichkeiten miteinander multiplizieren, doch die Konsequenzen dieser Wahrscheinlichkeiten auf unser Leben und unseren Alltag transferieren, das können wir nicht. Regelmäßig erschrecken uns Studien, die zeigen, dass auch viele Ärzte die Krebsstatistiken zwar lesen, aber nicht korrekt interpretieren können. Unser Leben wird von Wahrscheinlichkeiten und Risiken determiniert, doch wir sind zahlenblind. Das hat uns auch die Corona-Pandemie wieder demonstriert.

Tag für Tag brachten Medien die aktuelle aggregierte Todeszahl, die sich (Stand Manuskripterstellung) auf die 10.000 zu bewegte. Zehntausend Tote in Friedenszeiten! Die bloße Zahl erschreckte Millionen Menschen schon beim Frühstück. Damit keine Missverständnisse entstehen: Jeder Corona-Tote ist ein Toter zu viel. Doch das Dauerbombardement mit bedrohlichen Zahlen zeitigte Wirkung: Die Anrufe bei den Sorgentelefonen stiegen sprunghaft und die Anzahl der psychischen Erkrankungen. Das haben beziehungslose fünfstellige Zahlen so an sich: Allein ihre absolute Höhe schockiert.

Deshalb sollte man sie generell in Beziehung setzen – zum Beispiel zur Gesamtbevölkerung; das sind 84 Millionen Bundesbürger*innen. Selbst die aggregierte Anzahl der Erkrankten (brutto, ohne Genesene) belief sich auf rund 200.000 – das sind 0,2% der Bevölkerung. Das ist immer noch schlimm. Aber lange nicht so schlimm, wie sich morgens im Radio von „10.000 Toten“ erschrecken zu lassen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das Robert-Koch-Institut bei der saisonalen Grippewelle 2017/18 rund 25.000 Tote meldete. Übersetzt man diese Zahlen auf gut Deutsch, dann wütete Corona in Deutschland nicht halb so schlimm wie eine „normale“ Wintergrippe.

Doch wenn man es mit Zahlen nicht so hat, macht man sich beim Morgenkaffee überzogene Sorgen wegen eines 0,2%-igen Risikos und schwingt sich danach unbehelmt auf den Drahtesel zum Büro, obgleich das Risiko, dabei einen Unfall zu erleiden, 25 Mal größer ist, als an Corona zu erkranken! Wir irren damit gleich doppelt. Weil wir zahlenblind sind. Warum wird Zahlenkompetenz dann nicht endlich an den Schulen gelernt? Warum lernen wir dort zwar Rechnen, aber nicht Zahlen verstehen?

Das ist eine gute Frage. Eine bessere Frage lautet: Wenn wir uns Radfahren, Tennisspielen, im Job ordentliche Arbeit abliefern und viele andere Schlüsselkompetenzen des modernen Lebens mehr oder weniger selber beigebracht haben, warum warten wir dann ausgerechnet bei der Zahlenkompetenz auf das staatliche Bildungssystem? Es kommt nicht darauf an, dass die Schulen uns die Lektionen beibringen. Es kommt darauf an, dass wir unsere Lektionen lernen. Wenn das Leben uns Zahlen zuwirft, sollten wir sie verstehen.

 

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